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» NEIL SMITH: Heute erwartet Sie etwas sehr erfreuliches.
Wir werden mit David Harvey über seine Vorlesungen zu 'Das Kapital' sprechen,
die er jetzt, glaube ich,
seit fast 40 Jahren hält.
Mein Name ist Neil Smith.
Ich unterrichte Anthropologie und Geographie an der City University of New York,
und David ist mein Kollege seit er hierher kam.
Aber davor, eine lange Zeit davor, mehr als 30 Jahre zuvor,
war ich ein Student von David an der Johns Hopkins in Baltimore, und dort
kam ich zum ersten Mal, nicht in Kontakt, wohl aber dazu
'Das Kapital' zu lesen, und zwar zusammen mit David.
David, was hat Dich veranlasst,
damals in den frühen 70ern 'Das Kapital'
zu studieren?
» DAVID HARVEY: Es war einer dieser
historischen Momente
wo es einfach genau passte.
Ich war gerade frisch aus England,
angekommen, im Sommer '69
und zog nach Baltimore,
wo 1968 ein ungeheurer Ausbruch von Gewalt stattgefunden hatte
- in Folge der Ermordung von Martin Luther King.
Die Situation des Bürgerrechts war himmelschreiend,
Der Rassismus in der Stadt war eklatant.
Der Vietnamkrieg tobte,
die Anti-Kriegs-Proteste
kamen gerade ins Rollen
und es war eine sehr, sehr verworrene Zeit…
Und so weit ich mich entsinne,
wurde im Dezember '69 in
Chicago Fred Hampton getötet,
ein Anführer der Black Panther
und kurz darauf,
im Mai '70,
erschoss die Nationalgarde Studenten an der Kent State University.
Gewaltiger Studentenprotest, Millionen Studierende streikten landesweit.
Und kurz darauf die Morde an der Jackson State.
Es war also eine äusserst aufgebrachte Zeit.
Ich würde sagen,
- zumindest für mich gilt das - wir wussten nicht recht wie wir mit all dem umgehen sollten,
und wie das alles zu erklären war.
Und ich war doch als eine Art Sozialwissenschaftler ausgebildet, der über diese Dinge nachdenkt,
und ich konnte kein Bezugssystem finden, mit dem diese Vorgänge eingefangen werden konnten.
Darum fragte ich einige Doktoranden: Warum lesen wir denn nicht einfach mal 'Das Kapital'?
Das haben wir ja noch nicht gelesen,
vielleicht steht was drin,
das uns weiterbringt.
Und so setzten wir uns zusammen und gründeten einen Lesezirkel.
So hat's angefangen. Und als wir das erste Mal durch waren, hatten wir das
das Buch vollkommen missverstanden,
vollkommen missverstanden. Wenn ich zurückdenke
bin ich immer noch peinlich berührt von dem, was wir im ersten Jahr darüber zusammengeschwafelt haben.
Also, da hat ein Blinder die Blinden durch diesen ungeheuren Text geführt.
Wir wussten nicht wirklich was wir taten und so dachten wir: Na ja, Einmal ist Keinmal,
machen wir es besser nochmals, offensichtlich haben wir das Ding noch nicht ganz verstanden.
Immerhin hatte ich bis dorthin schon soviel gelernt:
Man fängt erst an 'Das Kapital' zu verstehen, wenn man es komplett gelesen hat.
Anfangs ist es schon ziemlich mühselig…
» NEIL SMITH: Richtig.
» DAVID HARVEY: …so etwas wie Orientierung zu gewinnen.
Darum haben wir im zweiten Jahr beschlossen, es noch mal zu versuchen,
und wir haben es nochmals gelesen.
Und ich dachte mir:
Interessant, und ich sah wie sich ein System herausschälen liess,
das mir dabei helfen konnte zu erklären was vor sich ging. Also dachte ich: bleiben wir dabei.
Und es gab andere Leute,
die wie ich dachten, sie bräuchten ein Bezugssystem, und so begann ich allmählich
zu sagen: O.k., das mache ich jedes Jahr.
Und was dabei natürlich passiert,
ist dass man plötzlich ein Marxist genannt wird.
Ich hatte keine Ahnung was ein Marxist ist, und ich kümmerte mich anfangs
auch nicht gross darum. Aber nur weil man das Buch liest und es
ernst nimmt und man
mehr darüber wissen möchte, wie man die Welt durch diese Brille verstehen kann,
findet man sich plötzlich in dieser politischen Ecke wieder. Und nach einer Weile sagt man:
Wenn das bezeichnet wer ich bin, dann sei dem halt so.
» NEIL SMITH: Ich glaube es wäre sinnvoll, jetzt,
wo die Vorlesungen bald beginnen,
wenn Du uns eine Art Überblick,
eine kurze Aussicht auf das
geben könntest, was Du als die Hauptpunkte in Band 1 von 'Das Kapital' ansiehst.
» DAVID HARVEY: Worauf es, glaube ich, wirklich ankommt
und weshalb
es mir soviel Vergnügen bereitet, den Kurs auf diese Weise zu halten,
liegt daran, dass viele Studenten ja bereits Kurse mit ein bisschen Marx,
ein bisschen Weber, Durkheim und all dem genommen haben. Sie haben Marx ausschnittsweise gelesen,
aber nie ernsthaft als ganzes Buch.
Und es ist ein phantastisches literarisches Werk! Deshalb möchte ich eine Sache
wirklich hervorheben:
um was für eine lohnende Lektüre es sich handelt!
Sobald man die Schwierigkeiten des Sprachstils überwunden und die begrifflichen
Konzepte erfasst hat, stellt sich heraus, dass es ein sehr dynamischer, eingängiger Text ist.
Und das von Anfang an - vom einfachen Gedanken über die Ware an…
Man geht in den Supermarkt, findet Waren vor, kauft Waren, trägt sie heim, isst sie,
zieht sie an, oder was auch immer.
Mit dieser wohlvertrauten Sache beginnend, wird ganz einfach und Schritt für Schritt
die Funktionsweise der kapitalistischen Wirtschaftsweise enträtselt.
Und dann entwickeln sich daraus jene Einsichten, verblüffende Einsichten - wie diejenige
warum es Arbeitslosigkeit gibt; warum es Auseinandersetzungen
über Arbeitszeiten gibt;
warum Kapitalisten unentwegt versuchen
Teile unserer Lebenszeit abzuknapsen;
warum unsere gesamte Lebenswelt gewissermaßen
nach dem Metronom eines ganz spezifischen Zeitkonzeptes tickt;
und welche Zwänge all das einschließt. Auf diese Weise, finde ich,
ist 'Das Kapital' in seiner ganzen Art ungemein erhellend.
Deutsche Zitate stammen aus: http://www.mlwerke.de/
Deutsche Untertitel: Michael Tueller Kontakt: mtueller@gmx.net
Also, das Ziel dieses Kurses ist es,
dass Ihr dieses Buch lest.
Und zwar so gut es geht zu Marx' eigenen Bedingungen.
Das mag ein bisschen albern klingen, denn
solange Ihr das Buch noch nicht gelesen habt,
werdet Ihr wohl kaum genau wissen,
was für Bedingungen das sind.
Eine der Bedingungen jedenfalls ist das Lesen selbst.
Deshalb werdet Ihr hier sehr viel mehr mitnehmen,
wenn Ihr die angegebenen Passagen tatsächlich lest,
bevor Ihr in die Vorlesungen kommt. Jedenfalls mehr als wenn Ihr hier bloss zuhört.
Es gibt dafür nämlich noch einen anderen Grund:
Es ist immer ein Kampf
etwas Neues zu verstehen,
auch ein Kampf mit sich selbst.
Und indem man selber mit dem Text kämpft, kann man zu seinem
eigenen Verständnis von Marx' Text kommen und was er für einen bedeutet.
Es ist also ein Ringen zwischen euch und diesem Buch,
euch und diesem Text,
zu dem ich ermuntern möchte.
Dabei taucht aber
ein Problem auf, das einfach daher rührt,
dass man diesen Text kaum ohne einige vorgefasste Ideen lesen kann. Jeder/jede
hat schon von Karl Marx gehört,
und alle kennen die Begriffe Marxismus und Marxist,
und es schwingen alle möglichen
Bedeutungen mit diesen Bezeichnungen mit.
Was ich Euch also zu Beginn bitten muss, ist zu versuchen viele dieser Vorurteile beiseite
zu schieben, viele der Dinge
die Ihr über Marx zu wissen glaubt, und einfach zu versuchen den Text zu lesen
um herauszufinden, was er wirklich sagen wollte.
Und das ist aus einer
Reihe anderer Gründe nicht ganz einfach,
und darüber möchte ich jetzt als Einleitung sprechen.
Gewisse Vorurteile, zu denen wir
bei der Annäherung an eine solche Art Text neigen, kommen von unserem
jeweiligen individuellen intellektuellen Werdegang, unserer jeweiligen speziellen
intellektuellen Ausbildung her.
Für Studenten mit Abschluss, zum Beispiel,
wird diese intellektuelle Bildung sehr oft durch die Begriffssysteme ihres Fachs,
durch spezifische Überlegungen
und Bedenken ihres Fachs bestimmt.
Es besteht also die Tendenz,
den Text vom jeweiligen fachspezifischen Standpunkt aus zu lesen.
Nun, eine tolle Sache bei Marx ist, dass er in keinem Fach je eine Laufbahn hätte einschlagen können.
Und wenn Ihr ihn recht verstehen wollt, solltet auch Ihr eine Laufbahn
in Eurem Fach vergessen,
selbstverständlich nicht langfristig, aber für die Dauer dieses Kurses.
Ihr müsst über das, was er sagt,
unabhängig vom fachspezifischen Wissen,
mit dem ihr üblicherweise an die Dinge herangeht, nachdenken.
Nun, ein anderer Grund für diese Empfehlung ist der, dass es sich bezüglich seiner Verweise um ein
erstaunlich reiches Buch handelt.
Verweise zu Shakespeare, zu den Griechen, zu Balzac,
Verweise zu allen politischen Ökonomen, zu Philosophen,
zu Anthropologen und vielen anderen. Anders ausgedrückt:
Marx schöpft aus
einer Unmenge an Quellen,
und es könnte für Euch spannend werden zuweilen herauszufinden, um welche Quellen
es sich genau handelt. In der Tat sind manche
seiner Quellen ziemlich schwierig herauszufinden, und das sagt einer, der das schon sehr lange tut.
Aber es ist durchaus sehr aufregend, wenn man beginnt
einige der Verbindungen zu sehen.
Z. B: Als ich das allen zum ersten Mal las, hatte ich noch nicht viel
von Balzac gelesen, später las ich dann seine Romane und ich stelle fest:
'Ah, daher hat Marx das!'
Und dann beginnt man plötzlich zu sehen wie er aus einer grossen
Erfahrungswelt schöpft,
viel von Goethe, viel von Shakespeare, und vielen anderen.
Es ist also
ein sehr inhaltsreicher Text, und ich glaube man beginnt das
eher zu schätzen
wenn man aufhört sich zu fragen:
'Auf wen bezieht er sich hier historisch?',
oder: "Über welchen Ökonomen spricht er hier?, usw.
Wenn ihr es so lest, werdet ihr ausserdem entdecken,
dass es sich um ein sehr interessantes Buch handelt.
Es ist ein faszinierendes Buch.
Und dann begegnet man natürlich einer Reihe anderer Vorurteile, weil sicher viele
von euch schon einiges von
Marx gelesen haben.
Vielleicht habt ihr das Kommunistische Manifest in der Schule gelesen.
Vielleicht habt ihr einen dieser wunderbaren Kurse absolviert, die oft
'Einführung in die Gesellschaftstheorie' heissen, in denen man sich vielleicht 2 Wochen mit Marx
beschäftigt, ein paar Wochen mit Weber, ein paar Wochen mit Durkheim und all den anderen.
Und vielleicht habt ihr einige Auszüge aus 'Das Kapital' gelesen.
Es als ganzes Buch zu lesen ist jedoch eine total andere Sache als nur Auszüge zu lesen,
weil man beginnt zu sehen wie sich die einzelnen Teile auf die eine oder andere Art
zu einer grösseren und breiteren Erzählung zusammenfügen.
Und ich möchte, dass ihr aus all dem eine Art Gefühl dafür gewinnt,
was diese grössere Erzählung und die grössere Konzeption ist, denn ich denke, dass dies
die Art ist den Text zu lesen, die sich Marx gewünscht hat. Er hätte es gehasst,
wenn jemand gesagt hätte:
'Du musst nur dieses Kapitel auszugsweise lesen', oder: 'Du musst nur jenes Kapitel lesen um
Marx zu verstehen.'
Und er hätte es sicher nicht gemocht, wenn ihm nur 3 Wochen in einem Einführungskurs
zur Gesellschaftstheorie zur Verfügung gestanden hätten.
Und ich finde auch ihr solltet so was nicht mögen,
denn aus so einer Herangehensweise erhält man eine Vorstellung von Marx,
die sich radikal von derjenigen unterscheidet,
die man erhält, wenn man
ein Buch wie 'Das Kapital' liest.
Nun, was dann natürlich passiert, aus fachspezifischen Gründen,
ist dass die Leute beginnen ihr Verständnis
von ihrem Fach her zu bilden. D.h. jemand sagt zum Beispiel:
'Nun, ich bin kein guter Ökonom, ich verstehe das Ökonomische hier überhaupt nicht,
also werde ich mich nicht damit rumschlagen der ökonomischen Argumentation zu folgen.
Ich werde einfach der philosophischen Argumentation folgen.'
Und es ist in der Tat sehr interessant, Marx aus
dieser Perspektive zu lesen.
Ich halte diese Vorlesung nun jedes Jahr seit 1971,
mit einer Ausnahme.
In manchen Jahren habe ich sie zwei Mal gehalten, in anderen drei Mal.
In den ersten Jahren hielt ich die Vorlesung vor allen möglichen
Gruppen von Leuten.
In einem Jahr war es
die ganze philosophische Abteilung des Morgan State College, wie es damals hiess,
Morgan State Universität. Ein anderes Mal
waren es alle fortgeschrittenen Studenten der Anglistik an der Johns Hopkins Uni.
In einem weiteren Jahr
waren es Ökonomen, und so weiter. Und es war in der Tat jedes Mal faszinierend
für mich zu sehen, wie man mit jeder Gruppe andere Dinge entdeckt.
Und indem ich mit all den verschiedenen Fachgruppen den Text durchgegangen bin,
hab ich sehr viel über ihn gelernt.
Einige Male hat es mich fast wahnsinnig gemacht, aber es hat mich viel gelehrt.
In einem Jahr z.B.
hielt ich die Vorlesung vor einer Gruppe von Leuten aus der 'vergleichenden Literaturwissenschaft' an der
Johns Hopkins, etwa 7 Personen.
Wir begannen mit Kapitel 1,
und wir kamen das ganze Semester nicht über Kapitel 1 hinaus.
Es machte mich wahnsinnig. Ich sagte: 'Schaut, wir sollten weitergehen, zum Arbeitstag, zu all
den anderen wichtigen Themen.' Und die Leute meinten:
'Nein, nein, wir müssen erst diese Sache hier klären, was meint er wirklich
mit Wert? Was ist diese Ware Geld eigentlich wirklich?
Um was handelt es sich beim Warenfetischismus? Was geht hier wirklich vor?'
Und es stellte sich heraus…
Ich fragte sie: 'Warum geht ihr so vor?' Sie antworteten: 'Nun, wir arbeiten in der
Tradition von…' jemandem, von dem ich damals noch nie gehört hatte. Und ich
dachte, das müsse ein Idiot sein, weil wegen ihm all das veranstaltet wurde.
Ein Mann namens Jacques Derrida,
der während der späten 60er und frühen 70er Jahre viel Zeit an der Johns Hopkins verbrachte,
und deswegen die
vergleichende Literaturwissenschaft dort stark beeinflusst hat.
Eine Sache, die mir danach
zu denken gab, war…
Was sie mich lehrten war: ganz genau auf Marx' Sprache zu achten;
was er sagt, wie er es ausdrückt, was er damit meint, und was er eventuell auslässt;
und das ist alles sehr bedeutsam.
Also lernte ich… Und ich bin dieser Gruppe im Nachhinein sehr dankbar,
schon nur darum, dass ich nicht mehr wie ein Idiot aussehe, weil ich noch nie von
Jacques Derrida gehört habe.
Es hat mich also sehr beeinflusst
von einer solchen Gruppe mit einem feinen Kamm
nur durch Kapitel 1 zu gehen,
fast jedes Wort umzudrehen, jeden Satz, jede Verbindung zwischen
den Sätzen, usw.
Natürlich möchte ich, dass ihr zum Kapitel über den Arbeitstag gelangt, natürlich
möchte ich, dass ihr das ganze Buch lest. Wir werden also nicht all unsere
Zeit mit Kapitel 1 verbringen.
Aber so was können verschiedene fachspezifische Perspektiven aufzeigen.
Auch weil Marx diesen Text
von den vielen verschiedenen bereits angedeuteten Ausgangspunkten her geschrieben hat.
Und ich glaube
wir müssen erkennen,
wie sich diese verschiedenen Ausgangspunkte im Text überschneiden.
Es gibt in der Tat drei wesentliche
Inspirationsquellen für dieses Werk,
und sie werden alle durch Marx'
tiefes Bekenntnis zur kritischen Theorie,
zur kritischen Analyse aufgebracht.
Als er noch relativ jung war, schrieb er einen kurzen Text, eine Art Editorial,
für eine deutsche Zeitschrift.
Der Titel dieses Textes lautet: 'rücksichtslose Kritik alles Bestehenden'.
Ein sehr bescheidener Text und ich empfehle Euch ihn zu lesen,
denn er ist faszinierend.
Was er dort sagt…er sagt nicht,
alle anderen sind doof,
ich werde alle runtermachen, ich werde allen anderen die
Existenz absprechen. Keineswegs.
Er sagt, dass
es viele ernsthafte Leute gibt, die wirklich tief über die Welt nachgedacht haben.
Und sie haben bestimmte Sachen über die Welt herausgefunden, und diese Erkenntnisse
sind unsere Ressource. Die 'Kritische Methode' nimmt das, was sie herausgefunden haben,
bearbeitet es und verwandelt es in etwas anderes.
Er sagte später etwas, das diese Methode, wie ich finde,
wundervoll beschreibt:
Er sagt: Um solch eine Transformation hervorzubringen,
nimmt man zwei radikal verschiedene Konzepte,
reibt sie aneinander und entfacht so ein revolutionäres Feuer.
Und das ist in der Tat was er macht. Er nimmt sehr, sehr verschiedene Traditionen auf
bringt sie zusammen,
reibt sie aneinander,
und kreiert ein komplett neues Gebiet der Erkenntnis.
Er sagt in einem seiner einleitenden
Vorworte: Wenn man versucht ein neues Erkenntnissystem zu errichten,
muss man die ganze konzeptionelle Ausrüstung umgestalten.
Man muss die ganze Methode des Erforschens neu gestalten.
Die 3 Entwürfe/Konzepte die er in 'Das Kapital' aneinander reibt
sind die folgenden:
Erstens sind da die Auffassungen
der klassischen politischen Ökonomie.
Die klassische politische Ökonomie des 18. und frühen 19. Jahrhunderts.
Vor allem die aus England.
Nicht nur aus England, aber es geht
von Locke und Hobbes und Hume über zu Adam Smith, Ricardo und Malthus.
Und eine Menge anderer Figuren, wie z.B. Steuart und einige unbedeutendere.
In seinem dreibändigen Werk 'Theorien über den Mehrwert'
unterwarf er all diese Leute
einer tiefgründigen Kritik.
Er hatte noch keinen Fotokopierer und er hatte noch kein Internet und all das Zeug,
also kopierte er mühselig von Hand
lange Passagen von Adam Smith und schrieb
anschliessend einen Kommentar dazu.
Auch lange Passagen von Steuart
und wiederum einen langen Kommentar dazu.
Was er da tat nennen wir heute Dekonstruktion.
Und eine Sache die ich beim
Lesen von 'Theorien über den Mehrwert' gelernt habe,
ist wie man eine Argumentation dekonstruiert.
Er macht folgendes, er stellt fest:
Adam Smith entwickelt folgende Argumentation.
Was lässt er aus?
Was fehlt hier? Was ist das
fehlende Stück darin,
das eigentlich alles zusammenhält,
und das, wenn wir es hinzufügen, die Argumentation transformiert?
Die politische Ökonomie
spielt also eine wichtige Rolle
in der ganzen Geschichte.
Ich kenne mich ziemlich gut aus in der politischen Ökonomie. Ich habe viele ihrer Texte
gelesen, und ich fühle mich da ziemlich zu Hause. Vielleicht kommt das von meiner Herkunft
aus der englischen Tradition, dass ich mich darin ziemlich wohl fühle.
Und deshalb werde ich Euch ziemlich
viel Material daraus bieten,
d.h. von wo Marx
seine Inspiration her hat,
auch weil er nicht immer alles zitiert im 'Kapital'.
Eine Idee taucht auf,
eine Idee, die offensichtlich von irgendwoher übernommen wurde
und sehr bedeutend ist,
aber Marx gibt nicht immer an, woher er sie hat.
Es gibt natürlich auch noch
ein paar andere Theoretiker, sogar aus den USA, aber in erster Linie aus Frankreich.
Es gab also auch eine französische Tradition der politischen Ökonomie, die ziemlich anders war.
Marx bezieht sich auch darauf. Dies ist also ein zentraler Bereich
seiner Diskussion.
Der zweite Bereich ist
die klassische deutsche Philosophie,
die bis auf die Griechen zurückreicht.
Marx' schrieb seine Dissertation
über Epikur, d.h. er war sehr genau vertraut mit dem griechischen Denken,
und dem Weg, über den das griechische Denken in die deutsche philosophische Tradition kam.
Spinoza, Leibniz, und natürlich Hegel,
und viele andere,
diese Tradition ist also sehr wichtig.
Er benutzt also die Tradition der deutschen kritischen Philosophie in
Verbindung mit der politischen Ökonomie. Er bringt beides zusammen.
Und er übernahm in verschiedenster
Weise auch viel von Kant.
Diese Tradition ist also auch sehr wichtig.
Ich bin nicht allzu gut vertraut mit dieser Tradition. Ich habe keine fundierte Ausbildung auf diesem Gebiet.
Jene von euch mit einer besseren Ausbildung
auf diesem Gebiet werden wahrscheinlich Dinge entdecken, die mir entgangen sind.
Ich habe ein bisschen 'was gelernt, als ich
einmal mit einer Gruppe von Philosophen gearbeitet habe, die ein fundiertes Wissen über Hegel besaßen.
Sie zeigten mir eine Art Hegelsche Sicht
darauf, wie Marx vorgeht. Ich weiss ein bisschen etwas darüber,
aber nicht soviel
wie ich es gerne hätte.
Und ich muss gestehen, dass ich schon sehr früh einige Sympathie für
die britische Ökonomin Joan Robinson empfand, als sie meinte, dass es
sie störe, wie sich Hegel zwischen sie selber und Ricardo in Marx' Werk schiebe.
Das war mir sympathisch…
…und einige der Probleme…
…die ich damit habe Hegel zu verstehen…
…ich kann die Aussage verstehen.
Ich sage manchmal zum Spaß - und ich sollte das wohl nicht sagen, sonst ärgere ich alle
anwesenden Hegelianer: Hegel vor Marx zu lesen hat den grossen Vorteil
dass es die Marx-Lektüre danach ziemlich einfach erscheinen lässt.
Also, gebt euch eine Dosis Hegel bevor ihr mit Marx beginnt und alles wird O.k. sein.
Die dritte Tradition,
die er aufgreift, und wogegen er häufig Einspruch erhebt,
ist die Tradition der utopischen Sozialisten.
Dabei handelt es sich v.a. um eine französische Tradition,
obwohl es natürlich auch Robert Owen und einige andere Briten gab, und natürlich Thomas More.
Die britische Strömung
taucht auch hie und da im Text auf.
Die grossen sozialistischen Denker aber… Es gab da in Frankreich diese gewaltige
Welle an utopischem Denken in den 30er und 40er Jahren des 19. Jahrhunderts.
Leute wie Etienne Cabet, der eine Gruppe namens Ikarianer gründete und nach 1848
hier her in die USA kam.
Proudhon. Saint-Simon. Fourier.
Marx war sehr, sehr vertraut damit; er lebte einige Jahre in Paris,
er kannte ihre Texte sehr gut.
Wenn man das Kommunistische Manifest liest, sieht man, dass er etwas frustriert über ihre Werke war.
Ihm missfällt wie die
Utopisten versuchen eine ideale Gesellschaft zu konstruieren, ohne die geringste Idee
zu haben wie man dahin gelangen könnte.
Marx selber will die
sozialistischen Utopie
in ein wissenschaftlichen Projekt wandeln.
Um das zu erreichen kann er aber nicht einfach
den englischen Empirismus, die englische politische Ökonomie etc. benutzen.
Er muss die wissenschaftliche
Methode dazu erst neu erschaffen.
Seine wissenschaftliche Methode
gründet also stark
auf dieser Untersuchung der
- v.a. englischen - Tradition der politischen Ökonomie,
der - v.a. deutschen - Tradition der kritischen Philosophie,
und dem utopischen Impuls mit der Frage:
Was ist Kommunismus?, Was ist eine sozialistische Gesellschaft?,
Wie können wir den Kapitalismus kritisch untersuchen?
Dies, wenn man so will, also das dritte Spannungsfeld, das ihn vorantreibt.
Ich bin recht gut vertraut
mit der Tradition der französischen Utopisten, insbesondere mit der
utopischen Tradition dieser Zeit.
Und ich habe sogar darüber geschrieben, also… Ich habe die Texte vieler dieser Leute gelesen,
Fourier zum Beispiel, Saint-Simon und besonders Proudhon, und ich glaube…
dass Marx häufig mehr von ihnen übernimmt als er zugeben möchte,
da er sich eigentlich von dieser offenkundig utopischen
Tradition der 30er und 40er Jahre des 19. Jahrhunderts
distanzieren wollte, die er in mancher Hinsicht
als mitverantwortlich für das miserable Scheitern der 1848er Revolution in Paris ansah.
Um sich von all dem zu distanzieren sagte er:
'O.k., ich werde die gar nicht gross erwähnen.' Aber de facto benutzt er dann
doch viel von ihnen, insbesondere von Saint-Simon,
aber auch, ex negativo, von Fourier. Tatsächlich sind viele seiner Ideen
quasi ein Negativ der Ideen Fouriers.
Man kann ihn also nicht wirklich verstehen, wenn man nicht weiss wen er ablehnt.
Und er negiert Fourier auf dieselbe Weise
wie er auch etliche
der politischen Ökonomen negiert: freiheraus. Insbesondere Malthus, mit dem
er besonders viel Mühe hatte.
Dies sind also einige der Hauptthemen, die in diesem Buch auftauchen.
Ich empfahl ja, dass wir das ganze in Marx
eigener Begrifflichkeit lesen sollten, aber das stellt uns vor
eine ganze Reihe an Problemen, derer sich Marx selber bewusst war.
Interessanterweise schrieb er
in einem der Vorworte,
speziell im Vorwort zur französischen Ausgabe,
als es den Vorschlag gab, die französische Ausgabe als Fortsetzung herauszubringen
- ihr wisst schon, die Franzosen lieben es Texte als Feuilletons zu publizieren;
das bedeutet: eine Zeitschrift erscheint und es gibt die ersten zwei Kapitel…
Dann in der nächsten Woche… also eine Art fortgesetzte Publikation.
Marx schreibt dazu, im Jahr 1872:
"Ich begrüße Ihre Idee, die Übersetzung des "Kapitals" in periodischen Lieferungen
herauszubringen. In dieser Form wird das Werk der Arbeiterklasse leichter zugänglich sein,
und diese Erwägung ist für mich wichtiger als alle anderen.
Das ist die Vorderseite Ihrer Medaille,
aber hier ist auch die Kehrseite:
Die Untersuchungsmethode, derer ich mich bedient habe
und die auf ökonomische Probleme noch nicht angewandt wurde,
macht die Lektüre der ersten Kapitel
ziemlich schwierig, und es ist zu befürchten, dass das französische Publikum",
und da seid ihr eingeschlossen,
"stets ungeduldig nach dem Ergebnis und begierig, den Zusammenhang zwischen
den allgemeinen Grundsätzen
und den Fragen zu erkennen, die es unmittelbar bewegen,
sich abschrecken lässt, weil es nicht sofort weiter vordringen kann.
Das ist ein Nachteil, gegen den ich nichts weiter unternehmen kann,
als die nach Wahrheit strebenden Leser von
vornherein darauf hinzuweisen und gefaßt zu machen.
Es gibt keine Landstraße für die Wissenschaft, und nur diejenigen haben Aussicht,
ihre lichten Höhen zu erreichen,
die Mühe nicht scheuen,
ihre steilen Pfade zu erklimmen."
Da ihr ja alle eifrig nach
der Wahrheit strebt
muss ich euch warnen:
Die Lektüre der ersten paar Kapitel ist sehr mühsam und schwierig.
Dafür gibt es mehrere Gründe.
Einer der Gründe ist seine Methodik, über die wir gleich sprechen werden.
Der andere Grund hat mit der
besonderen Art und Weise zu tun, mit der er an sein Vorhaben herangeht.
Sein Vorhaben ist es zu verstehen
wie die kapitalistische Produktionsweise funktioniert.
Und er ist sich dabei immer bewusst, dass das ein ganz gewaltiges Vorhaben ist.
Für die Durchführung dieses Vorhabens
muss er einen begrifflichen Apparat entwickeln,
der ihn beim Verstehen der ganzen Komplexität des kapitalistischen Systems hilft.
Nochmals: In einer der Einleitungen weist er darauf hin,
wie seine Vorgehensweise aussieht.
Er sagt: "Die Darstellungsweise",
jetzt reden wir also über die Darstellungsweise,
das Zitat stammt aus dem Nachwort zur zweiten Auflage [MEW 23 Seite 25],
"…die Darstellungsweise (muss sich) formell von der Forschungsweise unterscheiden."
Letztere - also die Forschungsweise -
"…hat den Stoff sich im Detail anzueignen, seine verschiedenen Entwicklungsformen zu analysieren
und deren innres Band aufzuspüren.
Erst nachdem diese Arbeit vollbracht, kann die wirkliche Bewegung entsprechend dargestellt werden.
Gelingt dies und spiegelt sich nun das Leben des Stoffs",
d.h. die kapitalistische Produktionsweise,
"ideell wider, so mag es aussehn, als habe man es
mit einer Konstruktion a priori zu tun."
Hier weist Marx darauf hin,
dass sich seine Untersuchungsmethode von seiner Darstellungsmethode unterscheidet.
Seine Untersuchungsmethode beginnt mit allem was existiert, allem was vor sich geht.
Man fängt mit der Realität an wie wir sie wahrnehmen,
sie sehen, sie fühlen.
Damit fängt man an.
Man fängt mit den Wirklichkeitsbeschreibungen
von Ökonomen, von Schriftstellern, von Jedermann an.
Man beginnt mit diesem ganzen Stoff
und man sucht in diesem Stoff
nach einfachen Konzepten.
Er nennt das 'Methode des Absteigens'.
Die Methode des Absteigens
geht von der unmittelbaren Wirklichkeit aus
und sucht immer tiefergehend
nach grundlegenden Begriffen.
Und wenn man einmal diese Fundamente freigelegt und entdeckt hat,
kehrt man zurück an die Oberfläche,
beobachtet was an der Oberfläche abläuft und man entdeckt,
dass man die Welt der Erscheinungen, von der aus man gestartet ist,
anders deuten kann.
Tatsächlich ist Marx ein Pionier einer Methode, die ihr vielleicht
von der Psychoanalyse her kennt.
Man beginnt mit der Oberfläche des Verhaltens und man hält Ausschau
nach einem begrifflichen Apparat, wie Freud es tat.
Dann entwickelt man einen begriffliches System, und damit kehrt man zurück und kann vielleicht
erklären: 'Ah, diese Person verhält sich in der Art, aber das schaut nur so aus, in Wahrheit
ist es nur ein Symptom von jenem.'
Marx macht etwas ähnliches. Eigentlich ist er der Pionier
dieser Methode in der Sozialwissenschaft.
Beginne mit den Erscheinungen an der Oberfläche; finde die darunter verborgene Grundlage.
Im 'Kapital' beginnt er mit den Grundlagen.
Er beginnt mit den Folgerungen seiner Untersuchung.
'Was sind meine Grundbegriffe?'
Und er beschreibt seine Grundbegriffe
sehr schlicht und sehr direkt,
und es sieht in der Tat wie eine a priori Konstruktion aus. Wenn man es zum ersten
Mal liest, sagt man sich:
'Woher kommt all das Zeug?
Woher hat er das? Warum tut er das?'
Und die halbe Zeit über hat man keine Ahnung, was er mit diesen Begriffen meint.
Doch beim Weiterlesen
beginnt man allmählich zu verstehen, wie diese Begriffe die Dinge um uns herum erklären.
Nach einer Weile sagt man sich:
'Aha, das ist es also, was die 'Werttheorie' bedeutet.
Um das geht es bei der Wert-Argumentation.
Ah, um das geht es beim Fetischismus.
Das ist es,
was mir diese begrifflichen Konzepte aufzeigen können.'
Aber so richtig versteht man den begrifflichen Apparat erst,
nachdem man das Buch zu Ende gelesen hat.
Nun, das ist nicht gerade die übliche Vorgehensweise.
Wir sind an Vorgehensweisen gewohnt, bei denen uns Leute einhämmern:
'Begreife erst einmal die Grundlagen, dann erst gehst du weiter.' Man lernt also
Stück für Stück für Stück für Stück.
Bei Marx erinnert es eher
an das Häuten einer Zwiebel. Ich benütze diese unglückliche Metapher auch,
weil mich jemand darauf hingewiesen hat,
dass man beim Häuten einer Zwiebel üblicherweise in Tränen ausbricht.
Was er tut ist dies: Er beginnt an der Oberfläche,
geht bis ins Zentrum der Zwiebel, findet heraus was sie zum Wachsen bringt
und kehrt dann zurück an die Oberfläche.
Man versteht also erst am Schluss, wenn er an die Oberfläche zurückkehrt,
um was es ihm geht.
Diese Beweisführung bezüglich des Wachstumsprozesses der Zwiebel… wenn man sich
gewissermaßen von Innen zu den äusseren Schichten voran arbeitet…
…denn es läuft ja so ab: Man verfeinert nach und nach seinen Begriffsapparat.
Es fängt an mit
einer ziemlich rohen und abstrakten Begrifflichkeit,
und wird allmählich immer gehaltvoller.
Es ist eine Entfaltung von Begriffen.
Es hat nichts mit einem Stein-auf-Stein Verfahren zu tun, das ist für die Meisten ziemlich ungewohnt.
Eine eurer Aufgaben wird also die sein euch umzugewöhnen.
Praktisch bedeutet es,
dass Ihr auf Biegen und Brechen durchhalten müsst - vor allem in den ersten drei Kapiteln.
Denn Ihr werdet wahrscheinlich nicht recht verstehen, um was es eigentlich geht,
bevor Ihr nicht
etwas weiter in den Text vorgedrungen seid. Dann erst beginnt ihr zu begreifen
wie diese begrifflichen Konzepte
funktionieren, und wie sie…
…ob eine Idee was taugt sieht man in der Praxis, d.h. sobald ihr beginnt
Marx' Schlussfolgerungen selber nachzuvollziehen,
dann kommt ihr voran.
Was ich eben gesagt habe, schliesst auch seine Wahl des Ausgangspunktes ein.
Wie wir noch sehen werden beginnt er vom Standpunkt…
…mit dem Begriff der Ware.
Zugegeben, das ist ein ziemlich seltsamer Anfang. Ich vermute,
den Meisten von euch fallen zu Marx Zitate ein wie: 'Alle Geschichte ist die
Geschichte von Klassenkämpfen'
Deshalb meint Ihr: 'Na ja, 'Das Kapital' wird wohl mit Klassenkampf anfangen'.
Es dauert aber ungefähr 300 Seiten bevor im 'Kapital' irgend etwas zu Klassenkämpfen steht.
Ziemlich enttäuschend für jeden
der etwas über den Klassenkampf erfahren will.
Warum beginnt er nicht mit 'Geld'?
Tatsächlich hatte er in seinen vorbereitenden Untersuchungen noch vor,
mit dem Geld anzufangen.
Allerdings kam er dann nach und nach zu der Einsicht, dass das unmöglich ist.
Warum beginnt er nicht mit 'der Arbeit'?
Es hätte viele verschiedene Ausgangspunkte gegeben, er entschied aber
mit der 'Ware' zu beginnen.
Und wenn man zurückgeht und seine vorbereitenden Schriften liest, erkennt man einen langen Zeitraum,
etwa 20 oder 30 Jahre, während derer er an dieser Frage hart arbeitete.
Was ist der günstigste Ausgangspunkt
dies alles zu untersuchen?
Was ist sozusagen im Kern der Zwiebel,
das mir nach einer
Analyse erlaubt
die Funktionsweise des Ganzen zu verstehen?
Und er entschied sich mit der Ware zu beginnen.
Das ist ein willkürlich gewählter Ausgangspunkt.
Er gibt keine logische Erklärung dafür und er bemüht sich auch nicht einen
von seiner Wahl zu überzeugen. Er sagt einfach:
'Hier beginne ich, dies ist die Art wie ich beginne über das alles nachzudenken.
Hier sind die Begriffe die ich benutzen werde.'
Eine ziemlich kryptische Art die ganze Sache zu beginnen. Er bemüht sich überhaupt nicht, den Leser
davon zu überzeugen. Da sagt man sich dann: 'Nun, wenn es keine Begründung für das alles gibt,
warum höre ich dann nicht einfach auf das Buch zu lesen?
Dann wird es auch noch etwas kompliziert,
und wenn man zu Kapitel 3 kommt, die Stelle an der die meisten Leser aufgeben,
wenn sie versuchen es alleine zu lesen,
wenn man also beim Kapitel 3 ankommt, stellt man fest: 'Das führt alles nirgendwohin.'
Deswegen ist es also eine wirklich schwierige Lektüre.
Der andere Grund warum es schwierig ist,
besteht, wie schon angedeutet, im Umstand, dass der begriffliche Apparat
nicht nur für den ersten Band des Kapitals vorgesehen ist.
Er ist auch für
alles andere da, über das er auch noch nachdenken wollte. Ihr werdet
wahrscheinlich verzweifeln, wenn ich euch sage, dass 'Das Kapital' aus 3 Bänden besteht.
Wenn ihr also die kapitalistische Produktionsweise wirklich verstehen wollt,
dann müsst ihr alle 3 Bände lesen.
Band 1 stellt nur eine bestimmte Perspektive
auf den kapitalistischen Produktionsprozess vor.
Schlimmer noch, die erwähnten 3 Bände sind nur etwa ein Achtel von dem, was er vorhatte.
Folgendes schrieb er in den 'Grundrissen',
einem vorbereitenden Text, in dem er verschiedene Entwürfe für 'Das Kapital' entwickelte,
dort sagt er:
'O.K., hier ist was ich machen werde,
ich werde die Analyse folgendermaßen durchführen:
Ich behandle im folgenden: "1) die allgemeinen abstrakten Bestimmungen, die daher mehr oder
minder allen Gesellschaftsformen zukommen(…)
2) Die Kategorien, die innre Gliederung der bürgerlichen Gesellschaft ausmachen und
worauf die fundamentalen Klassen beruhn.
Kapital, Lohnarbeit, Grundeigentum. Ihre Beziehung zueinander.
Stadt und Land.
Die drei großen gesellschaftlichen Klassen.
Austausch zwischen denselben.
Zirkulation.
Kreditwesen (private)."
Das richtige Thema für uns heute.
"3) Zusammenfassung der bürgerlichen Gesellschaft in der Form des Staats.
In Beziehung zu sich selbst betrachtet.
Die "unproduktiven" Klassen.
Steuern.
Staatsschuld.
Öffentlicher Kredit.
Die Bevölkerung.
Die Kolonien.
Auswanderung.
4) Internationales Verhältnis der Produktion.
Internationale Teilung der Arbeit.
Internationaler Austausch.
Aus- und Einfuhr.
Wechselkurs.",
ein weiteres gutes Thema,
"5)," ausgezeichnetes Thema,
"Der Weltmarkt und die Krisen."
Er gibt in den
'Grundrissen' also quasi eine Übersicht über sein Programm.
All das schwebte ihm vor,
als er begann
'Das Kapital' zu schreiben.
Er konnte das ganze nie abschliessen.
Die meisten dieser Themen
hat er gar nie behandelt.
Was wir also im 'Kapital' vor uns haben
ist der Beginn
dieses enorm umfangreich angelegten Projekts,
ein enormes Projekt, zu dem er an verschiedenen Stellen
Andeutungen machte, z.B. wie man den Staat verstehen sollte, wie man
die Zivilgesellschaft verstehen sollte, wie man die Auswanderung verstehen sollte,
wie man den Währungsumlauf verstehen sollte… usw.
Man muss wiederum beachten
dass der ganze begriffliche Apparat
am Beginn von 'Das Kapital'…
…Er versucht das ganze so zu entwerfen, dass es die ganze Last tragen kann,
aber er liefert dann auch
das Bezugssystem für Band 1,
Band 1 ist aber nur ein Teil
des Puzzles, das er entwirft.
In Band 1 geht es im wesentlichen um die kapitalistischen Produktionsweise,
vom Standpunkt der Produktion,
und nicht des Marktes oder
des globalen Marktes aus betrachtet.
Ihr solltet also wissen was Euch in dieser Vorlesung erwartet, nämlich
eine die Marxsche Analyse
der kapitalistischen Produktionsweise, aus der Perspektive des Produktionsprozesses.
In Band 2 geht es um den Warentausch,
in Band 3 um die Krisenentwicklung und
auch um die Regeln der Verteilung,
um den Zins, Abgaben, Steuern…,
diese Dinge.
Aber kommen wir zur
anderen Methode, die eine
wichtige Rolle in der Darstellung und der Untersuchung spielt:
Marx' Anwendung der Dialektik.
Er sagt, wiederum im Vorwort,
dass es sich bei der Dialektik
um ein total anderes
Analyseinstrument handelt.
Man findet kaum kausale Argumentationen bei Marx. Er sagt nicht:' Dies verursacht das.'
Er sagt fast immer:
'Dies ist dialektisch verbunden mit dem.'
Und ein dialektisches Verhältnis
ist ein inneres Verhältnis,
nicht ein kausales externes Verhältnis. Es ist ein intrinsisches Verhältnis.
Und er beschreibt diese dialektische Methode
nochmals im Nachwort zur zweiten Auflage.
Er sagt dort: 'Gut,
ich habe einige der Gedanken Hegels aufgegriffen,
aber,' sagt er, [MEW 23 Seite 27] "Meine dialektische Methode ist der Grundlage nach
von der Hegelschen nicht nur verschieden, sondern ihr direktes Gegenteil."
In mancherlei Hinsicht, glaube ich,
werden wir noch sehen, dass das nicht ganz zutrifft.
Tatsächlich hat Marx
die dialektische Methode revolutioniert und nicht einfach nur umgedreht,
wie oft behauptet wird.
Er fährt dann folgendermaßen fort: [MEW 23 Seite 27] "Die mystifizierende Seite der Hegelschen
Dialektik habe ich vor beinahe 30 Jahren(…)kritisiert,…"
Hier bezieht sich Marx auf
seinen Traktat: 'Kritik der Hegelschen Philosophie des Rechts',
'Zur Kritik der Hegelschen Rechtsphilosophie' oder wie immer der Titel genau lautet.
Und ich glaube, diese Kritik
hat eine sehr grundlegende
Rolle gespielt, in Bezug auf Marx'
Positionierung gegenüber der Hegelschen Dialektik.
Er spricht im folgenden also
über diesen Aspekt der Mystifizierung,
und wie diese mystifizierende Form der Dialektik,
wie sie von Hegel entworfen wurde,
in Deutschland in Mode kam.
Und warum er sie verändern musste,
damit man mit ihr alle historischen
Entwicklungen als fliessende, sich in Bewegung befindende Prozesse begreifen kann.
Er musste sie neu entwerfen, damit
mit ihr auch die sozialen Veränderungsprozesse erfasst werden können.
Er schreibt dann, dass diese Dialektik "In ihrer rationellen Gestalt(…)
sich durch nichts imponieren läßt,
ihrem Wesen nach kritisch und revolutionär ist."
Er beschreibt hier, dass er
die dialektischen Methode verwenden wird
um die Beziehungen zwischen
den Elementen seines Systems herauszuarbeiten.
Aber auf eine Weise, die
das Fliessende und die Bewegung erfasst.
Marx ist insbesondere beeindruckt
von der unglaublichen Beweglichkeit
und Dynamik des Kapitalismus.
Das mag sehr einem seltsam erscheinen, weil über Marx ja oft
in einer Art gesprochen wird,
als ob er ein starrer Analyst von Strukturen war.
Wenn man 'Das Kapital' liest, merkt man wie er diese Bewegung erkennt.
Überall erkennt er diese Bewegung.
Er spricht dauernd über
diese Bewegung und darüber, dass es sich dabei um einen dialektischen Prozess handelt.
Marx in Marx' eigenen Begriffen zu lesen
bedeutet also unter anderem, dass man versuchen muss, zu erfassen
was er mit Dialektik meint.
Das Problem bei der Sache ist nämlich:
Er hat nie eine Abhandlung über die Dialektik geschrieben.
Er hat nirgends festgehalten:
'O.K., dies hier ist meine dialektische Methode'.
Es gibt aber Hinweise darauf.
Wenn man seine dialektische Methode richtig verstehen lernen möchte,
dann liest man 'Das Kapital'.
Das ist der beste Ort um sie zu erfassen.
Und wenn man 'Das Kapital' sorgfältig zu Ende liest,
entwickelt man eine Vorstellung davon, wie diese dialektische Methode funktioniert.
Das ganze wird Euch aber sicher etwas verwirren,
weil ihr wahrscheinlich das dialektische Denken noch nicht gewohnt seid.
Und es ist sonderbar, dass Akademiker,
desto weniger vertraut sind mit der dialektischen Methode,
je besser sie in ihrer Disziplin ausgebildet sind.
In der Tat sind kleine Kinder grosse Dialektiker.
Sie sehen alles in Bewegung.
Sie sehen überall Widersprüche und agieren selber in allem ziemlich widersprüchlich.
Jede Widersprüchlichkeit führt zur nächsten
und eure Kinder erzählen euch
alle möglichen wundersam widersprüchliche Sachen.
Und ihr sagt ihnen dann womöglich: 'Hör jetzt auf darüber nachzudenken, sei vernünftig.'
Wir führen also den Menschen quasi von klein an weg von der Dialektik.
Dabei ist die dialektische Methode sehr, sehr mächtig und intuitiv.
Und man könnte sagen, dass Marx
diese sehr unmittelbare Art der Dialektik neu aufgreift und sie sowohl als
analytisches Instrument einsetzt, als sie auch, wie wir später sehen werden,
dazu benutzt zu begreifen, wie
alles einem ständigen Veränderungsprozess unterliegt.
Alles ist in Bewegung.
Alles wird auf diese Art beschrieben.
Er spricht nicht über Arbeit.
Er spricht über den Arbeitsprozess.
Das Kapital ist kein Ding;
es ist ein Prozess, es ist in Bewegung.
Wert existiert nur wenn es in Bewegung ist.
Wenn alles zum Erliegen kommt, verschwindet der Wert,
und das ganze System bricht zusammen.
Und einige von euch
erinnern sich vielleicht noch gut daran, was nach den Ereignissen von 9/11 passiert ist.
Die meisten Dinge kamen zum Erliegen. Die Bewegung setzte aus.
Flugzeuge flogen nicht mehr, man konnte Brücken nicht mehr überqueren,
und dann nach 3 Tagen
realisierten plötzlich alle, dass der Kapitalismus zusammenbrechen wird,
wenn die Dinge nicht wieder beginnen sich zu bewegen. Also trat plötzlich
Giuliani auf und sagte:
'Um Himmels Willen, nehmt eure Kreditkarten und geht Einkaufen.
Geht wieder auf den Broadway, geht zurück zu diesen Dingen, geht zurück.'
Bush trat sogar in einem Fernsehspot der Flugzeugindustrie auf, in dem er sagte:
'Fangt wieder an zu fliegen.
Bewegt euch wieder'.
Anders ausgedrückt: Der Kapitalismus ist, wie Jack Kerouac es ausdrücken würde, ständig 'unterwegs'.
Und wenn er nicht dauernd unterwegs ist, existiert er nicht.
Marx ist sich dessen sehr stark bewusst. Und es ist sehr sonderbar,
dass er häufig als statischer Denker dargestellt wird,
für den alles feststand. Nein, alles ist in Bewegung und
verändert sich dauernd.
Marx versucht wiederum
einen begrifflichen Apparat zu finden,
der helfen könnte diesen Bewegungsprozess zu verstehen.
Deswegen sind einige seiner Konzepte
so formuliert, dass sie
Beziehungen behandeln, den Akt der Transformation.
Diese Sache hier ist im Moment so, und so wird sie nächstens aussehen.
Und das kann ganz schön verwirrend werden,
aber er versucht diese Verwirrung aufzulösen, einen begrifflichen
Apparat zu entwerfen,
eine Tiefenstruktur, wenn man so will,
die uns dabei hilft all die
Bewegungsprozesse, die permanent um uns herum im Gange sind, zu verstehen.
Und insbesondere die Art wie diese Bewegung
im kapitalistischen Produktionsprozess in Gang kommt.
Deshalb denke ich, dass der Versuch
Marx zu verstehen u.a. über die Beschäftigung
mit seiner dialektischen Methode laufen muss.
Nun gibt es eine Menge Leute, einschliesslich vieler Marxisten, die seine Dialektik gar nicht mögen.
Es existiert beispielsweise eine Strömung,
die sich 'Analytischer Marxismus' nennt.
Die sagen so in etwa: 'Ach, diese ganze Dialektik…'
Die nennen sich mitunter gerne
'No *** Marxisten' ('Marxisten ohne den Schwachsinn'),
denn sie sagen: All die Dialektik ist einfach nur Bockmist.
Dann gibt es noch die Leute,
die die dialektischsten Dinge auf irgendeine Art in
eine kausale Struktur verwandeln wollen. Und es gibt tatsächlich eine rein
positivistische Version von dem was Marx beschrieben hat, die die Dialektik weglässt.
Nun gut, vielleicht ist das alles vollkommen korrekt; Ich will hier nicht behaupten, dass
die analytischen Marxisten unrecht haben.
Ich behaupte auch nicht, dass Leute, die das
ganze in ein positivistisches mathematisches Modell verwandeln falsch liegen.
Vielleicht haben sie recht.
Wenn man allerdings Marx in seinen eigenen Begriffen verstehen will,
muss man sich mit der Dialektik auseinandersetzen.
Danach ist es absolut in Ordnung, zu sagen: 'Marx liegt falsch,
Dialektik ist verkehrt, ich mag das Zeug nicht, es funktioniert nicht', usw.
Das ist in Ordnung.
Aber bevor man so etwas sagt, muss man verstanden haben, was es ist und wie es funktioniert.
Ein Teil dessen, was wir vorhaben,
ist also, uns für eine Weile
mit Marx' Dialektik zu befassen,
und uns anzusehen wie sie funktioniert.
Noch eine Sache bevor wir eine Pause machen: Ich bat darum,
Marx in seiner eigenen Begrifflichkeit zu lesen, aber natürlich bin ich Euer Begleiter.
Also werdet ihr ihn
mit meiner Hilfe lesen und mein Verständnis wird dabei eine wichtige Rolle spielen.
Ich muss an dieser Stelle also festhalten, dass mein Interesse für
Verstädterungsprozesse, für ungleiche geographische Entwicklungen, Imperialismus etc.,
dass all meine Interessen natürlich
sehr, sehr wichtig sind für die Art wie
ich den Text verstehe.
Anders ausgedrückt:
Ich habe jetzt etwa 30 Jahre Dialog mit diesem Text hinter mir.
Und einer der Gründe, warum ich jedes Jahr eine Vorlesung darüber halten will,
ist diese Frage, die ich mir jeweils stelle: 'Wie wird meine Lektüre in diesem Jahr werden?
'Was werde ich entdecken, das ich zuvor übersehen habe?'
Und ich entdecke neue Dinge, weil sich neue Dinge ereignen, d.h. die Geschichte schreitet voran,
die Geographie verändert sich.
Es kommen also bestimmte neue Dinge auf, und ich kann auf Marx zurückkommen und fragen:
'Hat er dazu etwas zusagen?' Und manchmal findet man etwas sehr scharfsinniges
darüber, manchmal gar nichts.
Ich habe also einen langen Dialog mit dem Text
hinter mir, und ich habe diese Art zu denken,
diesen Begriffsapparat, ständig in meiner Arbeit angewendet.
Und in diesem Prozess hat sich mein Verständnis des Texts natürlich verändert.
Ich vermute, dass ihr ziemlich andere Dinge
zu hören bekämet, wenn ihr euch
eine Aufnahme dieser Vorlesung
von vor 25 Jahren anhören würdet.
Sowohl das historische Umfeld als auch
das intellektuelle Klima haben sich seither aus verschiedenen Gründen verändert.
Viele neue Probleme sind aufgetaucht, die es vorher nicht gab,
und deshalb liest man den Text anders.
Ein interessantes Detail:
In einem der Vorworte spricht Marx über diesen Prozess,
darüber wie die Theorie der Bourgeoisie
eine bestimmte Weltauffassung beinhaltete. Dann ging die historische Entwicklung weiter
und machte diese Theorie überflüssig.
Die Vorstellungen mussten sich also verändern
wenn sich die Umstände änderten.
Oder die Vorstellungen mussten neu entwickelt werden.
Ihr werdet also auch einiges
meiner eigenen Interpretation mitbekommen.
Das lässt sich nicht verhindern.
Letztendlich aber möchte ich,
dass ihr Eure eigene Lesart entwickelt,
d.h. dass ihr euch mit dem Text vor dem Hintergrund eurer intellektuellen,
sozialen und politischen Erfahrungen
auseinandersetzt, und dabei eine gute Zeit verbringt,
und den Text zu euch sprechen lasst,
und erfasst auf welche Art Marx versucht die Welt zu verstehen.
Denn dieser Text ist vor allem anderen eine wunderbare Ü*** darin,
etwas verstehen zu wollen, das fast unmöglich zu verstehen scheint.
D.h. ihr kommt nicht darum herum
euch mit dem Text auseinandersetzen. Und ja, ich werde euch dabei ein klein wenig im Weg stehen,
aber ich hoffe nicht zu sehr, denn letztlich ist es eure Aufgabe,
die Bedeutung dieses Textes für euer eigenes Leben zu bestimmen.
Das ist auch das grossartige
an diesem Buch. Ich glaube, es wird euch in irgend einer Weise ansprechen. Wahrscheinlich nicht
auf dieselbe Weise wie es mich anspricht.
Und das ist auch richtig so
und sehr sinnvoll. Und ich möchte darum, dass ihr
in diesem Geiste daran geht.
O.K., das ist alles, was ich zur Einleitung sagen wollte.
Ich dachte mir, es wäre hilfreich einfach den ersten Abschnitt mit euch
zusammen durchzugehen, um zu versuchen euch eine Idee davon zu geben,
was ich mit der Methodik etc. meine.
O.K., er beginnt schlicht mit der Aussage:
"Der Reichtum der Gesellschaften, in welchen kapitalistische Produktionsweise herrscht,
erscheint als eine "ungeheure Warensammlung"
(…)einzelne Ware(…)
(…)Elementarform.
Unsere Untersuchung beginnt daher mit der Analyse der Ware."
O.K., das ist das a priori,
der Ausgangspunkt, wie schon erwähnt.
Aber achtet auf die Sprache: "erscheint".
Passt immer auf, wenn Marx das Wort "erscheint" benutzt.
"Erscheint" bedeutet nicht "ist",
"erscheint" bedeutet, es geht noch etwas anderes vor sich,
und man soll bloß vorsichtig sein und her- auszufinden versuchen, um was es sich handelt.
Beachtet auch, dass er sich ausschließlich mit der
kapitalistischen Produktionsweise befasst.
Historische oder sozialistische Produktionsweisen, oder gar
hybride Produktionsweisen kümmern ihn nicht. Er wird sich ziemlich exklusiv
mit der kapitalistischen Produktionsweise befassen.
Und es ist sehr wichtig
sich daran zu erinnern, wenn man im Text voranschreitet.
Dies ist also unser Ausgangspunkt.
Wenn man kurz überlegt,
ist es tatsächlich ein sehr guter Ausgangspunkt.
Warum? Wie viele von uns hier
in diesem Zimmer hatten noch nie mit Waren zu tun?
Jeder hat Erfahrungen mit Waren gesammelt.
Habt ihr heute eine gesehen?
Habt ihr gestern eine gesehen?
Seid ihr immer am Schoppen? Schaut ihr immer auf sie beim Bummeln?
Was er hier genau genommen gemacht hat, ist einen
gemeinsamen Nenner auszuwählen,
etwas alltägliches,
etwas, das uns allen bekannt ist.
Wir gehen in einen Laden, wir kaufen sie,
sie sind essentiell für unser Leben.
Wir können nicht leben ohne Waren zu konsumieren.
Wir müssen Waren kaufen um zu überleben.
Ein ganz einfacher Zusammenhang, also beginnen wir damit, und das hat
den weiteren Vorteil
- und das zu sagen wird wohl einiges an Kritik hervorrufen -,
dass es keine Rolle spielt ob man ein Mann oder eine Frau, oder Japaner, oder Fremder
oder religiös oder was auch immer ist. Anders ausgedrückt:
Es handelt sich um
einen schlichten ökonomischen Vorgang, den wir hier betrachten.
Dann sagt er: Nun, um was für eine Art ökonomischen Vorgang handelt es sich dabei?
Die Ware, sagt er, ist etwas, das
ein menschliches Bedürfnis oder Bedarf befriedigt.
Und er sagt: Mich interessiert
nicht…und dies ist die verborgene Form von jenem…er sagt im nächsten Abschnitt…
O.K., es ist etwas uns fremdes (äußerliches),
das wir dann irgendwie zu etwas eigenem machen.
Es befriedigt "durch seine Eigenschaften menschliche Bedürfnisse irgendeiner Art. Die Natur dieser
Bedürfnisse, ob sie z.B. dem Magen oder der Phantasie entspringen, ändert nichts an der Sache."
Mit anderen Worten: er interessiert sich nicht für die Psychologie dahinter, schiebt das beiseite.
Er sagt: Mich interessiert hier nicht
warum die Leute Waren kaufen. Sie kaufen Waren,
weil sie sie wollen, benötigen oder begehren.
Ich kann Waren zum Spass oder aus Notwendigkeit kaufen usw.
Das interessiert mich alles nicht. Mich interessiert nur die reine Tatsache
dass Waren von jemandem gekauft werden.
Dann fährt er fort und sagt: Das werden wir untersuchen.
Wie viele Waren gibt es auf der Welt?
Nun, es gibt Millionen davon mit verschiedenen Eigenschaften,
und wir alle bemessen sie nach verschiedenen quantitativen Maßstäben.
Und wiederum schiebt er das beiseite: "Diese verschiedenen Seiten und
daher die mannigfachen Gebrauchsweisen der Dinge zu entdecken ist geschichtliche Tat.
So die Findung gesellschaftlicher Maße für die Quantität der nützlichen Dinge.
Die Verschiedenheit der Warenmaße entspringt
teils aus der verschiedenen Natur der zu messenden Gegenstände, teils aus Konvention.
Die Nützlichkeit eines Dings macht es zum Gebrauchswert."
Die erste grosse Idee: Gebrauchswert.
Es ist von Nutzen für einen. Mich interessiert nicht zu untersuchen woher das kommt,
was die Geschichte des Gebrauchswerts ist usw.,
oder auf welche Art man dieses Ding bemisst. Alles was mich interessiert
ist das Konzept des Gebrauchswerts.
Beachtet wie schnell er abstrahiert.
Er erwähnt in einem der Vorworte,
dass man als Sozialwissenschaftlers, wie er einer ist, das Problem hat,
dass man nicht in ein Labor gehen, Dinge isolieren und Experimente machen kann.
Um ein Experiment durchzuführen muss man also die 'Abstraktionskraft',
wie er das nennt, benützen.
Und ihr merkt sofort:
Die Ware spielt eine zentrale Rolle.
Ich abstrahiere von den Bedürfnissen, dem Benötigten und den Begehren des Menschen.
Ich abstrahiere von der Betrachtung der speziellen Eigenschaften der Dinge.
Ich werde mich einfach auf die Tatsache konzentrieren,
dass die Ware dieses etwas besitzt, den Gebrauchswert.
Und das bringt ihn unmittelbar zu…
ab der Mitte von Seite 126 [MEW 23 Seite 50],
wo er sagt: "In der von uns zu betrachtenden Gesellschaftsform" - d.h.
im kapitalistischen Produktionsprozess -
"bilden sie zugleich die stofflichen Träger des - Tauschwerts."
Beachtet wiederum die Wortwahl: 'Träger',
eine Ware ist ein Träger von etwas.
Die Aussage lautet nicht: Die Ware 'ist' dieses oder jenes.
Sie ist der Träger von etwas,
das wir erst noch definieren ,
über das wir erst noch nachdenken müssen.
Nun, wenn wir uns die Tauschprozesse
anschauen, geographisch, zeitlich,
dann sehen wir einen enormen
Tauschprozess, einen enormen Tauschmarkt.
Wir sehen verschiedene Austauschverhältnisse
zwischen Hemden und Schuhen, abhängig von Ort und Zeit.
Wir sehen unterschiedliche quantitative Relationen zwischen Scheffeln von Weizen
und Paaren von Schuhen und Tonnen von Stahl etc.
Das erste was wir also in der Welt des Warentausches erkennen
sind inkohärente Tauschwerte, die querbeet variieren.
Er drückt das so aus: "Der Tauschwert
scheint daher etwas Zufälliges und rein Relatives,
ein der Ware innerlicher, immanenter Tauschwert (valeur intrinsèque)
also eine contradictio in adjecto."
Wir haben etwas über diese Welt des Tausches erkannt,
dass nämlich alles im Prinzip gegen alles andere getauscht werden kann.
Und wie er auf Seite 127 schreibt, bedeutet das, dass man immer in der
Situation ist, gerade etwas getauscht zu haben
und dann das erhaltene gegen etwas anderes eintauscht.
Anders ausgedrückt: man kann einfach mit dem Tauschen fortfahren.
Eine Sache bewegt sich also immer weiter.
Sie kann gegebenenfalls gegen all die anderen Waren eingetauscht werden.
Aus dieser Tatsache folgt,
schreibt er auf S.127 [MEW 23 Seite 51]:
"Es folgt daher erstens: Die gültigen Tauschwerte derselben Ware
drücken ein Gleiches aus.
Zweitens aber: Der Tauschwert kann überhaupt nur die Ausdrucksweise,
die "Erscheinungsform" eines von ihm unterscheidbaren Gehalts sein."
Das heisst: Wenn ich eine Ware in die Hand nehme,
kann ich sie nicht zerlegen
und das Element herausfinden, das sie tauschbar macht.
Es ist etwas anderes.
Sie ist gegen etwas anderes tauschbar und ich kann den Grund dafür nicht herausfinden
indem ich nur die Ware betrachte.
Ich muss die Ware in ihrer
Bewegung betrachten. Hier beginnt die Bewegung, der Fluss.
Das ist es, was ich betrachten muss.
Und in ihrer Bewegung
bringt sie offensichtlich etwas
über den Tauschprozess zum Ausdruck,
die Verhältnismässigkeit beim Austausch.
Es bedeutet, dass alle Dinge durch den Tausch vergleichbar sind.
Warum sind sie vergleichbar? Und was bestimmt
das Vergleichsverhältnis?
Woher kommt das?
Wie wird das definiert?
Und die Ware ist der Träger dieses 'Etwas'.
Aber es ist nicht in der Ware drin.
Es wird aus der Ware heraus geboren.
Es ist ein Verhältnis
innerhalb der Ware, nichts materielles.
Er behandelt dann Getreide und Eisen
und beginnt mir einem seiner geometrischen Beispiele,
sagt aber an einer sehr wichtigen Stelle, genau in der Mitte der Seite:
"Jedes der beiden, soweit es Tauschwert,
muß also auf dies Dritte reduzierbar sein.", was immer das auch ist.
Und: "Dies Gemeinsame kann nicht eine geometrische, physikalische, chemische oder
sonstige natürliche Eigenschaft der Waren sein.", weiter unten auf der Seite.
Wir begegnen hier etwas ziemlich wichtigem.
Marx wird oft als eine Art
schmuddeliger Materialist dargestellt. Ihr wisst schon: Alles muss materiell sein.
Aber hier sehen wir sogleich, dass er gar nicht über die Materialität der Dinge spricht.
Man kann das Materielle der Ware solange untersuchen wie man will, aber man wird
das Geheimnis der
Vergleichbarkeit und der Austauschbarkeit so nicht herausfinden.
Man findet es so nicht.
Dann fährt er fort, auf Seite 128 [MEW 23 Seite 52], und sagt:
"Als Gebrauchswerte sind die Waren vor allem verschiedner Qualität,
als Tauschwerte können sie nur verschiedner Quantität sein,"
d.h. wie viel von jenem wird gegen wie viel von diesem getauscht,
"enthalten also kein Atom Gebrauchswert."
Die Vergleichbarkeit, über die er spricht, entsteht nicht durch
durch den Nutzen einer Sache.
Er fährt dann fort: "Sieht man nun vom Gebrauchswert der Warenkörper ab, so
bleibt ihnen nur noch eine Eigenschaft (…)", und hier haben wir es mit einem weiteren a priori zu tun.
Welche Eigenschaft ist das?
Es sind alles Produkte menschlicher Arbeit.
Das ist es, was sie alle gemeinsam haben,
und was Tausch- und Gebrauchswert in sich tragen
ist die Eigenschaft ein Produkt menschlicher Arbeit zu sein.
Dann fährt er sofort fort und fragt:
Um was für eine Art Arbeit handelt es sich?
Nun, es kann nicht darauf basieren,
dass, wenn ich faul bin und 15 Tage benötige
um ein Hemd herzustellen, du mir dann den Gegenwert zahlen solltest,
d.h. 15 Tage deiner Arbeit.
Ich könnte ja jemanden finden, der ein Hemd in 3 Tagen hergestellt hat,
und gegen 3 Tagen Arbeit tauschen.
Er sagt also zuunterst in dieser Passage:
"(…)sie unterscheiden sich nicht länger,
sondern sind allzusamt reduziert auf gleiche menschliche Arbeit,
abstrakt menschliche Arbeit."
Das geht sehr schnell voran, und ist sehr rätselhaft.
Gebrauchswert, Tauschwert,
abstrakt menschliche Arbeit.
Und dann kommt noch dies:
"Betrachten wir nun das Residuum der Arbeitsprodukte. Es ist nichts von ihnen
übriggeblieben als dieselbe
gespenstige Gegenständlichkeit,(…)"
Marx liebt Gespenster und
Werwölfe und all das. Ihr werdet das also oft hören.
Er ist ein grosser Bewunderer von Shelley und Frankenstein usw.,
ihr werdet also viel von dieser Sprache bemerken. Es ist toll.
"eine bloße Gallerte unterschiedsloser menschlicher Arbeit, d.h.
der Verausgabung menschlicher Arbeitskraft ohne Rücksicht auf die Form ihrer Verausgabung.
(…)Als Kristalle dieser ihnen gemeinschaftlichen Substanz
sind sie Werte - Warenwerte."
O.K., er hat vier Seiten gebraucht um
drei fundamentale Begriffe darzulegen.
Gebrauchswert, Tauschwert, Wert.
Wert ist dasjenige, was
beim Warentausch weitergegeben wird.
Es ist das versteckte Element in der Ware, das alle
Waren im Prinzip gegen einander tauschbar macht.
Er fährt dann fort: Nun da wir vom Gebrauchswert abstrahiert haben,
gehen wir zurück und schauen uns nochmals den Tauschwert an.
Wir erkennen dann den Tauschwert, wie er unten auf Seite 128 sagt [MEW 23 Seite 53],
"als (…) notwendige[n] Ausdrucksweise
oder Erscheinungsform des Werts(…)"
Erscheinung, Erscheinungsform; aber dieses Mal von der anderen Seite her betrachtet.
D.h.: Etwas ist mysteriös an der Austauschbarkeit all dieser Waren.
Etwas ist mysteriös an der Art wie
all diese Waren miteinander vergleichbar sein können.
Und das Geheimnis ist, dass sie alle Werte sind.
Aber Wert wird nun vom Tauschwert repräsentiert.
Der Tauschwert, d.h. wie viel man
für das Produkt im Markt erhält,
ist eine Repräsentation des Werts,
eine Repräsentation von Arbeit.
Nun, könnt ihr die Arbeit in den Waren sehen
wenn ihr in den Supermarkt geht?
Aber sie hat einen Tauschwert, richtig?
Nochmals, Marx' Aussage lautet:
Ja, es sind aus Arbeit entstandene Produkte, aber man kann die Arbeit nicht sehen,
man sieht der Ware die Arbeit nicht an.
Aber man erhält eine Ahnung davon, weil sie durch den Preis repräsentiert wird.
Das heisst also, wenn man so will:
Der Tauschwert ist eine Repräsentation von etwas anderem.
Wiederum: Zu sagen etwas ist eine Repräsentation von etwas anderem, bedeutet nicht es 'ist' das
andere. Denn jedermann wird euch sofort
darauf hinweisen, dass der Unterschied zwischen der Repräsentation und dem,
was eine Sache wirklich ist, eine ziemliche Lücke darstellen kann. Und Marx wird einige
Zeit aufwenden, um über die Natur dieser Lücke zwischen
dem Wert und seiner Repräsentation zu sprechen.
Auf S.129 sagt er [MEW 23 Seite 53]:
"Ein Gebrauchswert oder Gut hat also
nur einen Wert, weil abstrakt menschliche Arbeit in ihm
vergegenständlicht oder materialisiert ist."
'Vergegenständlicht' - ein sehr wichtiger Begriff.
Ein Prozess, d.h. ein Arbeitsprozess, wird in einer Sache vergegenständlicht.
Das ist ein Gedanke, der bei Marx sehr wichtig wird.
Man hat eine Sache
und es gibt einen Arbeitsprozess.
Was ist die Beziehung
zwischen dem Prozess und der Sache? Diese Frage wird immer wieder
im Text auftauchen.
Prozesse und Dinge,
das Ding ist eine Repräsentation des Prozesses.
Wollt ihr ein einfaches Beispiel dazu?
Angenommen ich lasse euch
jetzt eine Prüfung darüber schreiben, was diese Konzepte bedeuten.
Und dann benote ich euch.
Eure Benotung wird die Sache betreffen.
Was hätte sie mit dem Prozess der hier abläuft zu tun?
Ihr wäret vielleicht sehr erbost
über ein schlechte Note, die ihr bekommt, weil ihr das alles noch nicht ganz begriffen habt.
Denn tatsächlich kämpft ihr euch ab
im intellektuellen Arbeitsprozess zu verstehen, was zur Hölle in diesem Text ausgesagt wird.
Das ist ein sehr wichtiger Sachverhalt.
Wenn man versucht die Sache als eine Sache zu prüfen…und tatsächlich,
im Bildungswesen gibt es dieses Problem überall.
Bildung ist ein Prozess,
es geht um lernenden Menschen, um einen Prozess, Denken, usw.
Und wir prüfen dauernd wie gut die Leute in diesem Prozess sind, indem wir uns
die Dinge anschauen, die sie produzieren.
Dissertationen, Aufsätze, Arbeiten,
multiple-choice Fragen usw.
Marx sagt also hier: Nun, die Repräsentation,
d.h. der Tauschwert,
ist etwas, das man sehen kann, aber es repräsentiert
eine andere Sache, nämlich den Wert.
Und wir werden sehen, dass der Wert ständig in Bewegung ist.
Und das bedeutet, dass ein Prozess in einer Sache verdinglicht wird.
Ein Arbeitsprozess, ein Töpfer, der einen Topf macht,
wird am Ende in einer Sache verdinglicht. Und es ist die Sache, die
im Markt verkauft wird, nicht der (Arbeits)Prozess.
Aber die Sache würde ohne den Prozess nicht existieren.
Also muss der Prozess verdinglicht werden.
Es gibt Leute, die nur zu gerne eine Dissertation machen würden, ohne
sie je wirklich zu schreiben.
Ihr sagt vielleicht: Oh, der Prozess ist super!
…Ah, O.K., instant-Doktor…
…aber nein, natürlich muss man die Sache verdinglichen.
Und wie jeder weiss, der in irgendeiner Form durch diesen Prozess gegangen ist,
kann man gute Ideen haben und diese fantastisch finden, und wenn man versucht
sie auf Papier niederzuschreiben merkt man: Oh Gott, was für ein Unsinn!
Und so muss man…
Marx spricht also über diesen Zusammenhang.
Das findet sich genau in…
das ist unmittelbar implizit in diesem
Gedanken der Verdinglichung.
Menschliche Arbeit wird verdinglicht, sie wird in
diesem 'Ware' genannten Ding materialisiert.
Aber innerhalb dieser Sache wird ein Mass über
die Dauer der hineingesteckten Arbeit bestimmt.
Und dieses Mass wiederum hat Einheiten, er nennt hier
Anzahl Stunden, Tage, etc.
Auch hier ist wieder ein Hinweis enthalten,
ein versteckter Hinweis, wenn man so will, auf die Art und Weise wie
der kapitalistische Produktionsprozess einen bestimmten Zeitbegriff etabliert.
Zeit - wie strukturiert der kapitalistische Produktionsprozess die Zeit?
Marx wird eine Argumentation entwickeln, die besagt: man muss begreifen,
dass vieles damit zusammenhängt, dass Zeit gleich Geld ist.
Die Zeit ist in einer bestimmten Art mit dem Wert verbunden, und deshalb
erhalten selbst unsere Zeiteinteilungen
eine gewisse Anziehungskraft, ganz
einfach durch die Art und Weise wie der kapitalistische Produktionsprozess funktioniert.
Er kommt schliesslich zu folgender Aussage, im Paragraph unten:
"Die gesamte Arbeitskraft der Gesellschaft,
die sich in den Werten der Warenwelt darstellt (…)"
Aber wo existiert diese Gesellschaft?, und wo tritt diese Welt der Waren auf?
Wir betrachten hier nicht
ein spezielles Gebiet, wir haben es vielmehr mit einer globalen Situation zu tun.
Die Welt der Waren -
wo ist die Welt der Waren im Moment?
Sie ist in China, in Mexiko, in Japan, in Russland…
Es ist eine globale Angelegenheit.
Und er betrachtet
die Gesellschaft in gewisser Hinsicht
als die ganze Welt des Kapitalismus.
Sein Begriff der Arbeit
und die Vermessung des Wertes wird also sozusagen
an Hand der ganzen Welt untersucht, und nicht nur an Hand der spezifischen
Arbeitsaktivitäten zu einer bestimmten Zeit an einem bestimmten Ort, es ist eine globale Sache.
Eine globale Situation, schon zu seiner Zeit,
und im Kommunistischen Manifest
gibt es übrigens eine brillante Beschreibung dessen,
was man Globalisierung nennen könnte.
Marx spricht dort über den Antrieb der Bourgeoisie einen Weltmarkt zu erschaffen
und über die daraus folgenden Konsequenzen,
dass alteingesessene Industriezweige zerstört und neue erschaffen werden,
eine ungeheurer Entwicklungsverlauf.
Marx schrieb dies zu einer Zeit als sich die Welt sehr schnell zu einer globalen
Wirtschaft erweiterte, durch die Dampfschifffahrt und
die Eisenbahn usw.
Und er begriff die daraus folgenden Konsequenzen sehr gut. Es bedeutete
dass Wert etwas ist, das nicht in unserem Hinterhof sondern
in der Welt der Waren bestimmt wird.
Und als Resultat davon landen wir bei, wie er es formuliert:
"Jede dieser individuellen Arbeitskräfte",
d.h. gleichwertige Arbeitskräfte,
"Jede dieser individuellen Arbeitskräfte, ist dieselbe menschliche Arbeitskraft wie die andere
soweit sie den Charakter einer gesellschaftlichen Durchschnitts-Arbeitskraft besitzt
und als solche gesellschaftliche Durchschnitts-Arbeitskraft wirkt(…)"
Und dann kommt die entscheidende Definition:
"Gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit
ist Arbeitszeit, erheischt, um irgendeinen
Gebrauchswert mit den vorhandenen gesellschaftlich-normalen Produktionsbedingungen
und dem gesellschaftlichen Durchschnittsgrad von Geschick und Intensität der Arbeit darzustellen."
Dies ist die erste Definition des Werts.
Wert ist 'gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit'.
Ich vermute, einer der Gründe warum Marx glaubte mit dieser kryptischen Präsentation
von Gebrauchswert, Tauschwert und Wert
durchzukommen der war, dass jeder, der Ricardo gelesen hatte,
sagen würde: 'Na klar, das ist reine Ricardosche Lehre.'
Und es ist auch Ricardo pur, jedoch mit einem ungewöhnlichen Einschub.
Ricardo setzte die Arbeitszeit dem Wert gleich.
Bei Marx ist es aber: 'gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit'.
Und man sollte sich sofort fragen:
Was bedeutet 'gesellschaftlich notwendig'?
Wie wird das bestimmt?
Er gibt an dieser Stelle keine Antwort darauf.
Eine Ahnung einer Antwort erhält man erst, wenn man mitten im Buch
'Das Kapital' drin ist.
Anders ausgedrückt: Marx entwickelt hier einfach die
Begriffe von Ricardo.
Er wiederholt sie und sagt in gewisser Weise: Ricardo hat etwas vergessen.
Es ist nicht hinreichend Wert mit Arbeitszeit gleichzusetzen.
Wir müssen dieses Fragezeichen einführen:
Was ist gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit?
Wie wird sie bestimmt? Wer bestimmt sie?
Das ist die grosse Frage.
Und ich möchte anfügen, dass es immer noch eine brennende Frage im globalen Kapitalismus ist:
Wer bestimmt den Wert, wie wird er bestimmt?
Wir alle denken wir hätten unsere eigenen Werte usw. und jedermann
redet gerne über Werte.
Aber Marx sagt: Schaut, es gibt hier einen Wert, der durch einen
Prozess bestimmt wird, den wir nicht verstehen.
Und er wird nicht von uns bestimmt,
er ist etwas, das uns geschieht.
Und es gilt herauszufinden
wie das passiert, wenn man verstehen will wer man ist
und wo man sich befindet in diesem Strudel von
sich umwälzenden Werten usw. Man muss verstehen lernen
wie Wert entsteht,
wie er erzeugt wird und was für soziale und die Umwelt betreffende
Konsequenzen usw. das hat.
Und wer glaubt, man
könne das Problem der Erderwärmung etc. lösen,
ohne sich mit der Frage auseinanderzusetzen,
wer die Wertstruktur bestimmt
und durch welche Prozesse sie bestimmt wird,
der macht sich selber was vor.
Marx sagt also: Man muss verstehen was 'gesellschaftliche notwendig' bedeutet.
Und wir werden viel Zeit aufwenden, um zu untersuchen
was 'gesellschaftlich notwendig' ist.
Er stellt jedoch sogleich fest,
dass Wert nichts feststehendes ist.
Ich habe bereits erwähnt, dass Wandelbarkeit von Dingen sehr wichtig für ihn ist.
Er sagt: Selbstverständlich ändert sich der Wert durch die Produktivität.
[MEW 23 Seite 53]"Nach der Einführung des Dampfwebstuhls in England z.B. genügte vielleicht
halb so viel Arbeit als vorher, um ein gegebenes Quantum Garn
in Gewebe zu verwandeln.
Der englische Handweber brauchte zu dieser Verwandlung
in der Tat nach wie vor dieselbe Arbeitszeit,
aber das Produkt seiner individuellen Arbeitsstunde stellte jetzt nur noch
eine halbe gesellschaftliche Arbeitsstunde dar und fiel daher
auf die Hälfte seines frühern Werts."
Also: Wert reagiert zuerst einmal ausserordentlich empfindlich auf
Revolutionen in der Technik,
Revolutionen in der Produktivität.
Und die Diskussion dieser Revolutionen in der Produktivität,
dieser Umwälzungen der Wert-Beziehungen,
machen einen grossen Teil von 'Das Kapital' aus.
Das führt zu der Schlussfolgerung,
unten auf S.129 [MEW 23 Seite 54]:
"Es ist also nur das Quantum gesellschaftlich notwendiger Arbeit
oder die zur Herstellung eines Gebrauchswerts gesellschaftlich
notwendige Arbeitszeit, welche seine Wertgröße bestimmt".
Hier haben wir die Definition.
"Die einzelne Ware gilt hier überhaupt als Durchschnittsexemplar ihrer Art."
Dann wiederholt er sich.
Das ist übrigens häufig so bei Marx.
Er wiederholt sich.
Er stellt sich wohl vor…: Wenn ihr das Beispiel mit
dem Handwebstuhl und der Webmaschine
nicht begriffen habt, dann werde ich es nochmals ganz klar
machen, indem ich zeige,
dass der Wert der Waren nichts konstantes ist, S.130 [MEW 23 Seite 54]:
"(…) Wertgröße (…) bliebe daher konstant, wäre die zu ihrer Produktion erheischte Arbeitszeit
konstant. Letztere wechselt aber mit jedem Wechsel in der Produktivkraft der Arbeit."
Das führt er dann weiter aus.
"Die Produktivkraft der Arbeit ist durch mannigfache Umstände
bestimmt, unter anderen durch den Durchschnittsgrad des Geschickes der Arbeiter,
die Entwicklungsstufe der Wissenschaft und ihrer technologischen Anwendbarkeit (…)".
Marx interessiert sich sehr für die Bedeutung von Technologie und Wissenschaft für den Kapitalismus.
"(…)die gesellschaftliche Kombination des Produktionsprozesses,
den Umfang und die Wirkungsfähigkeit der Produktionsprozesses,
und durch Naturverhältnisse."
Eine gewaltige Reihe an Dingen, die den Wert beeinflussen können.
Veränderungen in der natürlichen Umgebung haben Umwälzungen beim Wert zur Folge.
Technologie und Wissenschaft,
wie die Produktion gesellschaftlich organisiert wird,
Technologie etc.
Wir haben also den Wert,
der einer Reihe mächtiger Kräfte ausgesetzt ist. Und er (Marx)
versucht nicht, eine definitive Kategorisierung dieser Kräfte aufzustellen, er möchte uns einfach
darauf aufmerksam machen, dass dieses Ding 'Wert' nichts konstantes ist.
Der Wert ist fortwährenden revolutionären Transformationen ausgesetzt.
Dann passiert aber etwas eigenartiges.
Im letzten Abschnitt auf S.131 [MEW 23 Seite 55]
sagt er plötzlich:
"Ein Ding kann Gebrauchswert sein, ohne Wert zu sein."
O.K., dem können wir alle zustimmen.
Wir atmen und bis jetzt haben wir es noch nicht geschafft die Luft in Flaschen abzufüllen,
obwohl, auch das beginnt wohl schon, vermute ich…
Eine Sache kann nutzbringend und ein Produkt menschlicher Arbeit sein, ohne eine Ware zu sein.
Ich pflanze Tomaten in meinem Hinterhof und ich esse sie…
Viele Menschen produzieren sogar im Kapitalismus
eine Menge an Dingen für sich selbst.
Mit etwas Unterstützung von Do-it-Yourself etc.
"Um Ware zu produzieren, muß er
nicht nur Gebrauchswert produzieren,
sondern Gebrauchswert für andre,
gesellschaftlichen Gebrauchswert."
Ausserdem nicht einfach einen Gebrauchswert für den Fürsten, wie es ein Leibeigener tun würde,
sondern Gebrauchswerte, die über den Markt an andere gelangen.
Also produziert man
Gebrauchswerte, die man dann in den Markt schickt.
"Endlich", sagt er, "kann kein Ding Wert sein, ohne Gebrauchsgegenstand zu sein.
Ist es nutzlos, so ist auch die in ihm enthaltene Arbeit nutzlos, zählt nicht
als Arbeit und bildet daher keinen Wert."
Nun scheint er den Gebrauchswert beiseitezuschieben und davon zu abstrahieren,
indem er sagt: ich befasse mich nicht
mit Gebrauchswerten, interessiert mich nicht etc.
Ich abstrahiere davon, gehe über zum Tauschwert, und das bringt mich
zum Wert. Und jetzt bin ich beim Wert und ich sage:
Es spielt keine Rolle was für eine Art Arbeit in einer Sache drinsteckt, wenn sie niemand
will, wenn es kein menschliches Verlangen, Bedürfnis oder Begehren danach gibt, ist sie kein Wert.
Der Wert hängt also auch davon ab, ob etwas einen Gebrauchswert besitzt,
für jemanden, irgendwo.
Man muss die Sache verkaufen können. Was er also tut ist: Er bringt
plötzlich den Gebrauchswert zurück in das Konzept des Werts.
Wir haben es hier mit einer
interessanten Art Struktur zu tun.
Die sieht so aus -
Und ich möchte, dass ihr folgendes tut: Denkt nach jedem Abschnitt, den ihr gelesen
habt, darüber nach, wie der begriffliche Apparat aufgebaut wurde,
und was ihn zusammenhält.
Was hier vor uns haben sieht ungefähr so aus:
Wir haben die Ware.
Und wir haben den dualen
Charakter der Ware bereits erwähnt.
Sie hat einen Gebrauchswert.
Sie hat zudem einen Tauschwert.
Der Tauschwert ist eine Repräsentation von etwas anderem.
Von was ist er die Repräsentation?
Er ist die Repräsentation des Werts.
Aber der Wert hat keine Bedeutung,
wenn er nicht mit einem Gebrauchswert verbunden ist.
Was ist Wert?
Gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit.
Also, wenn man ein Haus besitzt, interessiert einen dann eher der Gebrauchs- oder der Tauschwert?
Jawohl, beides, man möchte beides auf einmal haben.
Richtig?
Das ist eine Art Gegensatz. Möchte man den Tauschwert einer Sache erhalten,
kann man nicht gleichzeitig ihren Gebrauchswert haben.
Hat man den Gebrauchswert wird es schwierig den Tauschwert zu erhalten, wenn man
nicht eine Umkehrhypothek aufnimmt, ihr wisst schon, all die Dinge, die die Leute in
letzten Jahren so gemacht haben.
Aber beachtet die Struktur:
Die Ware, ein singulärer Begriff
mit zwei Aspekten.
Kann man sich eine Ware nehmen, sie
halbieren und feststellen: das hier ist der Tauschwert und das da der Gebrauchswert?
Nein. Sie bildet eine Einheit.
Aber innerhalb dieser Einheit gibt es einen dualen Aspekt.
Und dieser duale Aspekt erlaubt es uns,
etwas, das wir Wert nennen, als 'gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit' zu definieren.
Und der Gebrauchswert einer Ware trägt das in sich.
Das ist es, was er mit sich bringt.
Aber um einen Wert darzustellen, muss die Sache nutzbringend sein.
Und natürlich werden in diesem Zusammenhang
all die Probleme von Angebot und Nachfrage auftauchen.
Ist das Angebot zu gross, sinkt der Wert, ist das Angebot zu klein, steigt der Wert.
Die Angebot-Nachfrage-Problematik spielt hier also mit hinein.
Marx interessiert sich aber nicht sonderlich dafür.
Wie er an verschiedenen Stellen anmerken wird,
interessiert ihn was passiert,
wenn Angebot und Nachfrage im Gleichgewicht sind.
Wenn ein Gleichgewicht besteht brauche ich einen anderen Analyseansatz,
und der Wert der Ware wird
durch diese 'gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit' festgelegt, was auch immer
diese gesellschaftliche Notwendigkeit ist. Hier haben wir also diese Art Struktur,
die uns dann erlaubt, über den
Wert einer Ware zu sprechen.
Wir können über Warenwerte sprechen.
Wir sind zum Verständnis gelangt,
dass Warenwerte über
'gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit' konstituiert werden.
Wie sehen hier einen Teil
von Marx' dialektischer Methode am Werk.
Meint ihr der Tauschwert sei die Ursache des Werts?
Würdet ihr sagen, dass der Tauschwert die
Ursache des Gebrauchswerts ist, oder dass der Gebrauchswert oder irgendetwas durch
etwas anderes verursacht werden? Dies ist eine nicht-kausale Analyse.
Es geht um Beziehungen, um dialektische Beziehungen.
Kann man über den Tauschwert reden ohne den Gebrauchswert zu erwähnen?
Nein, kann man nicht.
Kann man über den Wert reden, ohne den Gebrauchswert zu erwähnen? Nein, kann man nicht.
Anders ausgedrückt: Man kann nicht über einen dieser Begriffe reden, ohne die
anderen einzubeziehen.
Das ist es, was ich damit meine, zu beginnen sich durch
den "zwiebelartigen" Begriffsapparat zu arbeiten.
Es besteht ein organischer Zusammenhang zwischen diesen Konzepten.
Wir haben aber auch gesehen, dass
wir über Bewegung, über Entwicklung,
über das Herstellen von Dingen sprechen werden, über Arbeitsprozesse, die
als Gebrauchswerte verdinglicht
und vom Tauschwert repräsentiert werden.
Wir haben hier ein sehr interessantes
begriffliches System vor uns, bei dem es überhaupt nicht um Kausalität geht.
Es geht um interne Beziehungen.
Und mit fortschreitendem Verständnis
werden wir die Spannungen entdecken, die ich bereits erwähnt habe.
Dass es in der Tat toll wäre,
Gebrauchs- und Tauschwert zugleich zu besitzen.
Aber sehr oft werden wir vor eine schwierige Wahl gestellt.
Nutze ich den Gebrauchswert, oder
realisiere ich den Tauschwert?
Verzichte ich auf den Tauschwert und nutze den Gebrauchswert?
Dies sind die Entscheidungen, die wir täglich fällen müssen, wenn wir uns im Markt bewegen, richtig?
Verzichte ich auf den Tauschwert…
Nehme ich Geld für das da oder nicht…?
Bleibe ich beim Geld oder was soll ich tun?
Marx hat hier also etwas entwickelt, das bereits einiges erklärt.
Aber selbst da sagt er nicht: das hier wird von dem da verursacht.
Es ist also keine kausale Analyse.
Hier beginne ich… Ich möchte, dass ihr beginnt über
die dialektische Argumentationsmethode nachzudenken.
Sie enthüllt bereits beim Gang in den Supermarkt
einiges über die Auswahl die ihr dort trefft.
Und über die Dinge, die ihr dort seht.
Ihr erhaltet eine Repräsentation menschlicher Arbeit im Supermarkt.
Ihr werdet keine menschliche Arbeit sehen, nur eine Repräsentation davon.
Ihr werdet euch mit der verdinglichten Repräsentation abgeben müssen,
mit dem repräsentierten Wert,
und dann müsst ihr Entscheidungen über Gebrauchs- und Tauschwert fällen.
Das ist eine Art zu kontextualisieren, was Menschen täglich tun.
Und ihr merkt sofort , dass dieser Begriffsapparat, wenn ihr darüber nachdenkt,
euch hilft zu verstehen, obwohl Marx die Sache anders darstellt
als ich es hier mache.
Man lernt die Sache also nicht als reine formale Abstraktion.
Man versucht der Sache
Hand und Fuss zu geben beim Durchdenken.
Nun, was bedeutet das alles?
Wie hilft mir das, die Dinge, die um mich herum passieren, zu verstehen?
Solche kritische Fragen
resultieren aus dieser Art der Analyse.
Meine Absicht ist es
euch mit dem ersten Abschnitt
eine Art Modell, eine Idee zu geben, wie ihr versuchen solltet den Text zu lesen.
Es wird nicht immer funktionieren.
Ihr solltet aber versuchen, am Ende jeden Abschnitts innezuhalten und zu sagen:
O.K., über was für einen Zusammenhang spricht er hier?
Was sagen mir diese Zusammenhänge
über all das, aber auch über das was draussen vor sich geht.
In meinem täglichen Leben, im täglichen Leben anderer Leute, was passiert im Markt etc.?
Was sagt mir das alles?
Zeigt es mir überhaupt etwas auf?
Und zu Beginn wird es euch schwer fallen zu erkennen, was es euch zeigen könnte.
Später im Text wird Marx beginnen Resultate zu schildern, die diesen Zusammenhängen entspringen,
er wird die Sache weiterspinnen und
euch zu einem viel, viel grösseren Verständnis der Dynamik in all dem führen.
Dies ist also seine Arbeitsmethode.
Und ich denke, ich empfahl euch bereits,
dass ihr diesen Abschnitt nochmals lesen solltet
und dabei genau darauf achten wie diese Begriffe/Konzepte entwickelt werden und wie
sie funktionieren. Das war im Grossen und Ganzen eine Art Einführungsrede dazu.
So was ist ziemlich wichtig, wie ich aus bitterer Erfahrung weiss.
Aber ich möchte versuchen
euch etwas zum Mitmachen zu bringen,
d.h. ihr werdet zukünftig zweifellos
mit allen möglichen Fragen in euren Köpfen hierher kommen, weil ihr
sicher den Text genau studiert habt.
Wenn ich also über etwas spreche,
was nicht dazu passt wie ihr den Text gelesen habt,
dann unterbrecht mich bitte, O.K.?
Das ist völlig O.K., aber unterbrecht mich wegen dem Text.
Wie er in der Einführung zur französischen Ausgabe schreibt, ihr wisst schon,
die Leute wollen hier oft über Politik reden,
und ich rede auch gerne über Politik.
Aber manchmal geht der Text verloren, wenn man nur noch über Politik spricht.
Und die Politik diese Kurses ist es, euch dazu zu bringen den Text zu lesen
und zu verstehen.
Wenn ihr über Politik sprechen wollt, gehen wir nachher runter in O'Reilly's Bar an der
35. Strasse und diskutieren so viel wie ihr wollt über Politik,
bei mehreren Bieren,
das ist einer der Vorzüge dieses Kurses.
Hier aber…, hier drinnen möchte ich versuchen
beim Text zu bleiben.
Aber es gibt Beispiele, auf die ich hier schon hingewiesen habe,
wo gewisse Leute spezielle Erfahrungen haben, die
gut mit dem begrifflichen Analysemodell beleuchtet werden können. Und so was ist
sehr hilfreich. Wenn jemand z.B. sagt: Ja, das erinnert mich auf eine Art
an damals, als ich bei AT&T gearbeitet habe und jenes vorgefallen ist…
und es entspricht genau dem, wovon Marx spricht. Mit anderen Worten:
Es gibt andauernd Dinge,
die man mit Erfahrungen in Beziehung bringen kann. Ich bin nicht gegen die Erwähnung von so was,
es ist sogar meistens sehr, sehr hilfreich,
aber wir wollen wirklich sicher stellen,
dass wir es durch den Text schaffen,
aber ein bisschen mehr Betrieb schadet auch nicht, so dass ich hier nicht
dauernd alleine predige, ein bisschen mehr Abwechslung, damit ihr
auch etwas diskutieren könnt.
Uns bleiben etwa 10 Minuten, wenn also jemand eine Frage zu dem
bisher besprochenen hat…?
»Studentin: Ich habe mich gefragt, weil, wenn in der philosophischen Tradition von
Wert gesprochen wird, hat man üblicherweise diese Idee von etwas
Absolutem oder von etwas, das eine
unabhängige reale Existenz hat,
und ich frage mich, ob wir Marx' Definition von Wert als 'gesellschaftlich
notwendiger Arbeitszeit' als etwas
selber gesellschaftlich bedingtes verstehen können, und gibt es
etwas das vollkommen losgelöst davon ist, gibt es eine
vorstellbare gesellschaftliche Form,
in der der Wert selbst
seine eigene Repräsentation ist,
wenn diese zwei Dinge vereint sind.
Oder ist Wert immer und unvermeidlich eine Art Chimäre?
»HARVEY: Nein, ich glaube man muss folgendes begreifen:
Marx' Konzept des Werts ist etwas,
das im kapitalistischen Produktionsprozess drinsteckt.
Und er würde euch sagen: Ihr mögt noch andere Werte haben, das ist in Ordnung.
Und ihr könnt davon träumen, sie anstreben etc.
Aber sie haben kaum Bedeutung, solange ihr nicht das wirkliche
Wertesystem, das unser tägliches Leben bestimmt, verändern könnt.
Marx ist also nicht unbedingt dagegen über alternative Werte nachzudenken,
und ich glaube übrigens, dass genau das eines
grossen Probleme ist, das wir heute haben: welche alternativen Werte wollen
wir eigentlich im globalen Markt haben?
Der Wert Fairness…
und das zeigt sich auch bei der Umweltproblematik, zum Beispiel.
Die Leute möchten über den Wert der Umwelt sprechen, der auch ein
Teil des ganzen sein soll. Und wiederum würde
Marx sagen: Das ist in Ordnung.
Gut, er würde wohl nicht sagen "in Ordnung", denn er hatte ein bestimmtes Ziel vor Augen.
Aber rein theoretisch würde er sagen:
Das könnt ihr machen. Aber um euren Wertbegriff verwenden zu können
müsst ihr euch erst mit demjenigen auseinandersetzen,
der uns alle beherrscht,
bei dem was im Supermarkt geschieht, bei der Art wie wir unser tägliches Leben leben etc.
Und wir sprechen hier von einer Werttheorie,
die in der kapitalistischen
Produktionsweise drinsteckt.
Es wurden da oft kategoriale Fehler begangen,
weil eben Wert in Beziehung zur Arbeit und zum Arbeitsprozess gesetzt wird,
da gab es viele Gedanken im sozialistischen Lager, die Bestrebung
Marx Arbeitswerttheorie normativ aufzufassen,
beim Nachdenken darüber, wie
der Sozialismus funktionieren sollte.
Aber das ist nicht was Marx meint. Er sagt: 'Wert' ist der
kapitalistischen Produktionsweise inhärent.
Und wir müssen uns darüber einig werden
was dieser Wert ist.
Es gibt natürlich alternative Werttheorien.
Und man kann darüber
philosophieren, darüber nachdenken, sich Sorgen darum machen,
gesellschaftlich, politisch, etc.
Aber der Punkt ist, wie bereits erwähnt:
Ihr werdet euch immer wieder mit dem da auseinandersetzen müssen,
denn er ist grundlegend für die Art wie der kapitalistische Produktionsprozess funktioniert.
Wenn man ein anderes Wertesystem etablieren möchte, muss man
die kapitalistische Produktionsweise überwinden.
Und das ist seine revolutionäre Absicht.
Entschuldigung, da gab's eine Frage.
»Student: Ich wollte fragen, ob Sie etwas mehr über
Verdinglichung sagen könnten. Denn meine vorgefasste Meinung dazu
ist sehr statisch,
wenn Arbeit verdinglicht wird, bewegt sie sich weg vom Arbeiter und
wir haben diese Trennung.
Wie kann ich mir das mehr als Prozess vorstellen?
»HARVEY: Nun, wiederum… Die Sache ist nicht die…
zum Beispiel, nur als Beispiel:
Nehmen wir an aus Arbeit entsteht ein Haus.
OK, die Arbeiter, die das Haus errichtet haben, gehen weg,
dann ziehen vielleicht andere Arbeiter ein.
Dann gibt es die Frage: ist der Wert dieses Hauses nun für immer
festgelegt? Nun, gemäss dem von Marx aufgestellten System ist die Antwort: Nein.
Denn nehmen wir an der technologische Fortschritt
führt dazu, dass das Bauen von Häusern plötzlich viel einfacher wird.
Dann kann man z.B. von Barrackensiedlungen zu einer anderen Art Häusern übergehen,
es gibt also eine Dynamik darin,
und das deshalb
weil dem die Tatsache zu Grunde liegt,
dass so was wie ein Haus einen Gebrauchswert hat und dieser Gebrauchswert bleibt lange bestehen,
und man kann immer noch den Tauschwert realisieren, es hat einen verbleibenden Tauschwert.
Also…
Es gibt also eine Dynamik da drin,
die Dinge und die Eigenschaften der Dinge sind nicht fixiert.
Es ist wirklich viel
Dynamik in all dem. Aber das kümmert Marx im Grossen und Ganzen im "Kapital" nicht.
Er wird ungefähr sagen:
O.K., ich nehme für den Moment an, dass sie Dinge festgelegt sind.
Gleichzeitig sagt er auch:
Seid auf der Hut, die Dinge sind immer in Bewegung, nie festgelegt, ändern sich dauernd,
es ist eine dynamische, nicht eine statische Konzeption. Die Verdinglichung
gibt es, aber wiederum: die Bedeutung der Verdinglichung selbst ändert sich mit der Zeit
und mit dem Ort. Es gibt also all diese Elemente da drin.
»Student: Diese spezielle Sicht auf die kapitalistische
Welt, die Marx behandelt,
weicht offensichtlich von unserer Gegenwart ab.
Speziell die Art wie Gesetze z.B. Eigentum kreieren…ihr wisst schon…
nur gewisse Firmen dürfen eine bestimmte Sache herstellen, und dann
dominieren Konzerne das Geschehen.
Es ist kein freier Markt, protektionistische Gesetze…beeinflussen…
den Wert, so dass er nicht rein von gesellschaftlich notwendiger Arbeitszeit abhängt.
»Harvey: Nun, das ist eine der Fragen, die man stellen muss. Was bedeutet
'gesellschaftlich notwendige Arbeitszeit'?
Wie wird sie bestimmt?
Inwieweit sind es Monopole im Markt, die sie bestimmen?
Inwiefern ist es imperialistische Politik, die sie bestimmt?
Inwieweit ist es
kolonialistische Versklavung, die sie bestimmt.
Mit anderen Worten:
Das sind offene Fragen.
Und Marx ist im Prinzip
ziemlich offen für eine Diskussion dieser Art Fragen.
Aber eben, was wir uns anschauen werden
ist Marx' Auffassung der reinen kapitalistischen Produktionsweise.
Und die leitet sich in vielfältiger Weise von der Sicht der klassischen politischen
Ökonomie ab, wie wir sehen werden.
Anders ausgedrückt: Die klassische politische Ökonomie
nimmt an, dass es einmal perfekt funktionierende Märkte geben wird,
dass der Staat nicht im Weg stehen wird, und dass es keine Monopole geben wird.
Marx sagt also ungefähr: O.K., nehmen wir an dass
die klassischen politischen Ökonomen recht haben und die Welt so funktioniert.
Wir werden Beispielen begegnen,
bei denen ihm diese Annahmen Schwierigkeiten bereiten werden.
Aber es gibt in diesem
Entwurf nichts, dass es verbieten würde all diese Sachen zu betrachten, denn,
für mich jedenfalls ist die Kategorie 'gesellschaftlich notwendige
Arbeitszeit' etwas offenes,
etwas, das sich ständig ändert.
Was bedeutet gesellschaftlich notwendig heute,
im Gegensatz zu dem, was es 1850 bedeutet hat?
Etwas sehr verschiedenes. Ich möchte also,
dass ihr seht, dass man das verschieden lesen kann,
aber auch dass ihr realisiert, dass Marx
sehr spezifisch ist, spezifische Situationen betrachtet und
eine spezifische Absicht verfolgt.
»Student: Ist in 'gesellschaftlich notwendiger Arbeit' die Arbeit
inbegriffen, die ein Arbeiter benötigt um sich selbst am Leben zu erhalten?
»Harvey: 'Gesellschaftlich notwendig'
kann diese Frage beinhalten.
Wie viele sozialistische Feministinnen in den Debatten
der 1960ern/1970ern aufgezeigt haben,
muss die ganze Frage über 'gesellschaftlich notwendig'
gewisse Unterhaltskosten berücksichtigen,
die im Haushalt entstehen,
und die überproportional die Frauen betreffen.
Obgleich, wenn man sich die Geschichte der industriellen
Revolution anschaut, war es die Arbeit der Frauen
in den Fabriken, die grundlegend war, auch heute ist sie es noch.
Und der Grossteil des Proletariats sind heute Frauen.
Wie man die soziale Reproduktion
in 'gesellschaftlich notwendig' integriert war und ist
also ein umstrittene Frage unter Marxisten.
Übrigens solltet ihr wissen, dass Marx selber
eher kritisch gegenüber dem Begriff 'Marxist' war. Er sagte einmal: Ich bin kein Marxist.
Das sagte er, weil viele Dinge in seinem Namen gesagt wurden, die nicht
wirklich dem entsprachen, was er sagen wollte.
Deshalb möchte ich eben, dass ihr über das alles in Marx' eigener
Begrifflichkeit nachdenkt.
Denn es ist sehr wichtig zu sehen
wie er diesen Begriff des gesellschaftlich Notwendigen erweitert,
das werden wir später sehen.
Natürlich können wir dann darüber debattieren
wie ihr den Begriff erweitern möchtet,
wie wir ihn für ein
sozialistisches Projekt oder ein sozio-ökologisches Projekt, oder ein
sozialistisch-feministisches Projekt, oder was auch immer erweitern sollten.
Wiederum: Wie wir das ausarbeiten
ist mehr oder weniger unsere eigene Aufgabe.
Und ich glaube nicht, dass Marx möchte
dass ihr ihn als einen Überbringer einer Heilsbotschaft seht, in der
ihr euch selber wiederfinden könnt.
Es geht nicht um Eingrenzung, sondern um eine befreiende
Denkweise, die euch erlaubt über viele Möglichkeiten,
Alternativen usw. nachzudenken.
Noch eine weitere Frage.
»Studentin: Könnten Sie den Unterschied
zwischen Gebrauchswert und Tauschwert noch etwas genauer erklären?
»Harvey: Gebrauchswert ist ein Hemd oder ein Schuh,
oder was immer sie benutzen. Der Tauschwert ist:
Hemden und Schuhe im Markt und ihre Preise dort,
vereinfacht gesagt. Und es ist…
Ich möchte zu diesem Zeitpunkt noch nicht den Begriff Preis verwenden, weil wir noch nicht
gross über Geld gesprochen haben. Aber später werdet ihr
sehen, dass es um die im Markt erzielten Preise geht, und der Tauschwert ist der
Preis einer Ware.
O.K., wir sollte hier aufhören. Danke vielmals.
Nächste Woche treffen wir uns nicht, richtig? Denn…was ist nächste Woche?
»Student: 'Tag der Arbeit'. »Harvey: 'Tag der Arbeit', was für eine gute Idee.
Für nächstes Mal möchte ich, dass ihr
den Rest des ersten und das zweite Kapitel lest.
Wir werden bis zum Ende des 2. Kapitels vordringen. Das 2. Kapitel ist ziemlich kurz.
Der Rest dieses Kapitels ist aus verschiedenen Gründen sehr seltsam. Ich habe Marx'
literarischen Stil bereits erwähnt. Er wechselt von scharf analytisch,
wie eben gesehen, und geht beim nächsten Kapitel über zu etwas,
das ich seinen Buchhalter-Stil nennen muss,
und der ist sterbenslangweilig.
So in der Art: 'Das ist 2 Schilling wert,
und das da 3 Schillinge,
und das hier ist 2.5 Pence wert. Und wenn wir das zusammenzählen erhalten wir…'
Sterbenslangweilig.
Der 3. Abschnitt ist also eher lang
und eher langweilig.
Und meiner Meinung nach hätte er das kürzer halten können.
Aber es gibt ein paar wichtige Einsichten darin. Ihr werdet also zu kämpfen haben.
Der letzte Abschnitt des ersten Kapitels ist über den Warenfetischismus, wo es
um Werwölfe und Robinson Crusoe geht,
in einem unglaublichen literarischen Stil. Ihr werdet also ein langes Beispiel für
Marx verschiedene Schreibstile erhalten.
Und sie existieren alle nebeneinander.
Würde man seine Doktorarbeit in dieser Art schreiben, würde einem gesagt: 'Mein Gott!,
bereinige das, das kann man nicht so machen.'
In welchem Stil soll man sie schreiben? Aber er schreibt einfach in verschiedenen Stilen.
Und er geniesst das.
Und es ist auch unterhaltsam, denn man beginnt sich zu sagen:
Wie nur hängt das jetzt mit dem Rest zusammen?
Und was bedeutet das jetzt? Wie auch immer, so ist das erste Kapitel.
Das zweite Kapitel ist relativ kurz,
und wieder ziemlich analytisch.
Wesentliche Begriffe werden ähnlich wie zuvor entwickelt. Es ist also ein Schritt vorwärts im
Begriffsgebäude. O.K.? Also Kapitel 1 & 2 bis nächstes Mal.