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Silo, Buchvorstellungen: Gedankengut und literarisches Werk
Gran Palace Theater, Santiago, Chile, 23.5.1991
Ich danke dem Planeta-Verlag
und den zahlreichen Freunden dafür, mich eingeladen zu haben,
um über einige der Bücher zu sprechen, die vor kurzem
in Form einer Kollektion verlegt wurden.
Außerdem möchte ich mich für euer zahlreiches Erscheinen bedanken.
In den Vorträgen, die in den verschiedenen Ländern abgehalten wurden,
haben wir uns
jeweils mit dem Buch beschäftigt,
das gerade publiziert wurde.
Heute dagegen
werden wir versuchen, einen allgemeinen Überblick
der Ideen zu geben,
die die Grundlage dieser Werke ausmachen.
Ich hoffe, dass dies nicht all zu langweilig wird.
Außerdem möchten wir
einige Charakteristiken
von jeder einzelnen der vier Schriften, die heute vorgestellt werden, besprechen,
da diese weder in ihrer Thematik noch in ihrem Stil gleich sind.
Wie wir sehen,
sind die Interessen, welche diese Werke motiviert haben, unterschiedlich
und die Darstellungsformen variieren von der poetischen Prosa des Werks Die Erde menschlich machen
über die Kurzgeschichten der Geleiteten Erfahrungen
zur auslegenden Abhandlung im Werk Universelle Ursprungsmythen
bis zur wissenschaftlichen Abhandlung in Beiträge zum Denken.
Wenn ich nun jede der Schriften ein wenig betrachte,
so würde ich zur ersten, Die Erde menschlich machen, sagen,
dass es sich dabei um eine Trilogie handelt,
die aufeinanderfolgend 1972, 1981 und 1988 geschrieben wurde.
Ich beziehe mich auf Werke, die getrennt unter den Titeln Der innere Blick,
Die innere Landschaft
und Die menschliche Landschaft in Umlauf waren.
Die Erde menschlich machen
besteht aus den drei genannten Büchern,
die wiederum in Kapitel
und diese in nummerierte Absätze unterteilt sind.
Im Allgemeinen erfüllt die Abhandlung eine formalisierte appellierende Funktion
durch zwingende Sätze,
die dem Text eine gewisse Härte geben.
Zur Entschärfung sage ich,
dass häufig beschreibende Aussagen erscheinen,
die dem Leser ermöglichen,
die gemachten Behauptungen mit seinen eigenen Erfahrungen zu vergleichen.
Aber dieses Werk, das etwas polemisch ist,
präsentiert uns eine größere Schwierigkeit,
die durch die absichtliche Überstrapazierung
der spanischen Sprache entsteht.
Durch dieses Mittel
erreicht man eine Atmosphäre, die mit den Gefühlen übereinstimmt,
die man übermitteln will. Das bringt jedoch Bedeutungsprobleme mit sich,
die folglich ein vollständiges Begreifen erschweren,
so wie sie
bei der Übersetzung in andere Sprachen entstanden.
Die Erde menschlich machen ist eindeutig ein gedankliches Werk,
das eindeutig
in poetischer Prosa abgefasst ist
und vom menschlichen Leben in seinen allgemeinsten Aspekten handelt.
Es benützt die Verschiebung des Standpunkts
vom persönlichen Innersten
zum Zwischenmenschlichen und Gesellschaftlichen.
Es ruft dazu auf, die Sinnlosigkeit des Daseins zu überwinden,
und schlägt Aktivität und Kampf
mit dem Ziel der Humanisierung der Erde vor.
Der zweite Band, Geleitete Erfahrungen, wurde 1980 verfasst.
Er stellt eine Zusammenstellung von Kurzgeschichten dar,
die in der ersten Person geschrieben sind.
Aber wir müssen klarstellen, dass diese erste Person
nicht der Autor selbst ist,
wie es normalerweise der Fall ist,
sondern der Leser.
Dies wird erreicht, indem die Atmosphäre jeder Geschichte
als Rahmen dient, in den der Leser
sich selbst und seine eigenen Inhalte mit einbeziehen kann.
Als Hilfestellung befinden sich im Text
Sternchen,
die Pausen markieren und die geistige Einbeziehung
der Bilder erleichtern, die einen passiven Beobachter zum Hauptdarsteller
und Mitautor jeder Beschreibung machen.
In den literarischen Werken und im Theater, im Film und Fernsehen
kann sich der Leser oder der Zuschauer
mehr oder weniger vollkommen mit den Personen identifizieren,
aber er erkennt in diesem Moment oder nachträglich Unterschiede
zwischen dem Darsteller »innerhalb« dieser Szene
und dem Beobachter, der sich »außerhalb« befindet
und niemand anders als er selbst ist.
In den Geleiteten Erfahrungen geschieht das Gegenteil:
Der Hauptdarsteller ist der Beobachter, der Handlungen und Gefühle in Gang setzt und auch von ihnen betroffen wird.
Andererseits
gibt es in den Anmerkungen des Buches Elemente,
die es jeder Person mit minimalem literarischem Geschick ermöglichen,
selbst neue Geschichten zu entwerfen, die dem ästhetischen Genuss dienen können
oder auch als Rahmen, um über Lebenssituationen zu reflektieren,
die eine Verhaltensänderung oder eine notwendige Antwort erfordern,
die jedoch noch nicht eindeutig ist.
Im Unterschied zu Die Erde menschlich machen,
das sich der poetischen Prosa bedient, um allgemeine Lebenssituationen zu behandeln
und aufzufordern, in eine ebenfalls allgemeine Richtung zu gehen,
bedienen sich die Geleiteten Erfahrungen der Technik der Kurzgeschichte,
um dem Leser zu helfen, Ordnung
und Orientierung bezüglich der Handlungsweise zu erhalten,
zu der er sich in bestimmten Alltagssituationen entscheidet.
Der dritte Band, Universelle Ursprungsmythen, wurde 1990 geschrieben.
Hier werden nicht mehr die individuellen Bilder berührt
wie in den Geleiteten Erfahrungen,
sondern es werden die ältesten gemeinsamen Bilder behandelt,
aus denen die verschiedenen Kulturen ihre Mythen geformt haben.
Es handelt sich um eine auslegende Arbeit,
eine Interpretation
fremder Texte,
die teilweise überarbeitet wurden
bezüglich der Lücken, die im Original erscheinen,
und um die Schwierigkeiten zu überwinden, die auf die Übersetzungen, auf die wir uns stützten, zurückzuführen sind.
In dieser Schrift geht es darum, diejenigen Mythen herauszufiltern,
die eine gewisse Beständigkeit hinsichtlich ihres Handlungskerns erhalten haben,
auch wenn sich mit der Zeit Namen und sekundäre Attribute gewandelt haben.
Diese Mythen, die wir als »ursprünglich« bezeichnen,
haben außerdem ihren universellen Charakter
nicht nur aufgrund der geographischen Verbreitung, die sie erreicht haben,
sondern aufgrund der Tatsache, dass andere Völker sie übernommen haben.
Wenn wir die Doppelfunktion in Betracht ziehen, die wir dem Bild zuteilen
– 1. die Übersetzung lebenswichtiger Spannungen
und 2. der Impuls für ein Verhalten in Richtung einer Entladung der eben genannten Spannungen –,
dann hilft uns dieses kollektive Bild, das sich im Mythos ausdrückt,
seine psychosoziale Grundlage zu verstehen.
Deshalb bringt uns Universelle Ursprungsmythen
dem Verständnis der Faktoren näher, die den menschlichen Gruppen
Zusammenhalt und Richtung verleihen.
Das geht über die Tatsache hinaus, dass die jeweiligen Mythen
eine religiöse Dimension besitzen
oder einfach als starke verweltlichte gesellschaftliche Glaubensgewissheiten wirken.
Zwei Essays, »Psychologie des Bildes«, im Jahre 1988 verfasst,
und »Historiologische Diskussionen«, im Jahre 1989 entstanden,
bilden einen vierten Band: Beiträge zum Denken.
In ihm werden die für uns
wichtigsten theoretischen Themen
bezüglich der Struktur des menschlichen Lebens
und der Geschichtlichkeit, innerhalb derer diese Struktur sich entwickelt, umrissen.
Die bis jetzt abgegebenen Kommentare
geben uns die Grundlage, um eine umfassende Darstellung der Ideen zu versuchen,
die als Fundament unserer verschiedenen Werke dienen.
Allerdings muss ich darauf hinweisen,
dass einige dieser Ideen in Beiträge zum Denken ausführlicher behandelt werden.
Begeben wir uns nun ins eigentliche Thema,
mit Hilfe von einigen Überlegungen zu Ideologien
und Denksystemen.
Unsere Auffassung geht nicht von allgemeinen Ideen aus,
sondern vom Studium des menschlichen Lebens im Besonderen:
dem Einzigartigen der Existenz,
dem Einzigartigen der persönlichen Empfindung von Denken, Fühlen und Handeln.
Diese Ausgangshaltung macht sie unvereinbar
mit jedem anderen System, das von
den Ideen, von der Materie, vom Unbewussten, vom Willen usw. ausgeht.
Denn jede Wahrheit, die man bezüglich des Menschen,
bezüglich der Gesellschaft
oder bezüglich der Geschichte aufzustellen versucht,
muss sich erst mit den Fragen nach dem Subjekt beschäftigen, welches diese Frage stellt,
sonst vergessen wir den Menschen, während wir gerade über ihn sprechen,
oder wir ersetzen ihn oder schieben ihn weg,
als wollten wir ihn beiseite lassen,
weil uns seine Tiefen beunruhigen,
weil uns seine täglichen Schwächen und sein Tod
in die Arme des Absurden drängen.
In diesem Sinne haben vielleicht die verschiedenen Theorien über den Menschen
eine betäubende Wirkung gehabt,
indem sie den Blick vom konkreten Menschen, der leidet, erschafft, genießt und scheitert, abgewandt haben.
Eben dieser Mensch, der uns umgibt und der wir selbst sind.
Dieses Kind, das schon von seiner Geburt an der Tendenz unterliegt, wie ein Ding behandelt zu werden,
oder dieser Greis, dessen Hoffnungen, die er in der Jugend hatte, bereits zerbrochen sind.
Keine Ideologie, die sich als die Wirklichkeit selbst darstellt oder die behauptet,
keine Ideologie zu sein, indem sie die Wahrheit verdrängt,
die sie als eine weitere menschliche Konstruktion anprangert, sagt uns diesbezüglich etwas.
Die Tatsache, dass der Mensch Gott finden kann oder auch nicht,
dass er in der Erkenntnis und Beherrschung der Natur voranschreiten kann oder auch nicht,
dass er eine seiner Würde entsprechende Gesellschaftsordnung erreichen kann oder auch nicht,
setzt immer eine Bekannte in der Gleichung voraus, nämlich sein eigenes Empfinden.
Und wenn er irgendeine Auffassung annimmt oder ablehnt, egal wie logisch oder ausgefallen sie sein mag,
wird immer er selbst mit im Spiel sein,
gerade weil er ja derjenige ist, der ablehnt oder annimmt.
Sprechen wir also über das menschliche Leben.
Wenn ich mich beobachte,
und zwar nicht vom physiologischen, sondern vom existentiellen Standpunkt aus,
dann finde ich mich in einer gegebenen Welt,
die ich weder aufgebaut noch ausgewählt habe.
Ich befinde mich inmitten
von unvermeidbaren Phänomenen, und das beginnt schon mit meinem eigenen Körper.
Der Körper als grundlegender Bestandteil meines Daseins ist außerdem
als Phänomen von gleicher Art wie die natürliche Welt, in der er wirkt
und seinerseits die Auswirkungen dieser Welt erfährt.
Die Natürlichkeit des Körpers
weist für mich gegenüber den übrigen Phänomenen bedeutende Unterschiede auf,
und zwar folgende: 1. die unmittelbare Empfindung, die ich von ihm habe,
2. die Empfindung, die ich durch ihn von den äußeren Phänomenen habe,
3. die Verfügbarkeit über einige seiner Tätigkeiten dank meiner unmittelbaren Absicht.
Es ist aber so, dass mir die Welt
nicht nur als Anhäufung von natürlichen Objekten erscheint,
sondern als eine Verflechtung von anderen Menschen
und von ihnen geschaffenen bzw. veränderten Dingen und Zeichen.
Die Absicht, die ich in mir erkenne,
erscheint als ein grundlegendes Element zur Interpretation
des Verhaltens der anderen.
Und genauso wie ich meine Ansicht der sozialen Welt
durch das Verständnis der Absichten gestalte,
werde ich von ihr gestaltet.
Selbstverständlich sprechen wir von Absichten,
die sich in der körperlichen Handlung ausdrücken.
Dank den körperlichen Ausdrucksformen
oder der Wahrnehmung der Situation, in der sich der andere befindet,
kann ich verstehen, was diese bedeuten und was seine Absicht ist.
Andererseits erscheinen mir die natürlichen und menschlichen Dinge
als angenehm oder schmerzhaft
und ich versuche, ihnen gegenüber einen Standort zu wählen, indem ich meine Situation verändere.
Auf diese Weise bin ich gegenüber der Welt des Natürlichen
und der Welt der anderen Menschen nicht verschlossen,
sondern mein Charakteristikum ist eben gerade »die Öffnung«.
Mein Bewusstsein hat sich intersubjektiv gebildet,
da es bestimmte Denkmuster,
bestimmte gefühlsmäßige Modelle
und Handlungsschemata verwendet, die ich zwar als »eigene« empfinde,
die ich aber auch an anderen erkenne.
Und natürlich ist mein Körper zur Welt hin offen,
insofern ich sie wahrnehme und auf sie gerichtet handle.
Die natürliche Welt erscheint mir im Unterschied zur menschlichen
ohne Absicht.
Selbstverständlich kann ich mir vorstellen,
dass die Steine, die Pflanzen und die Sterne Absichten besitzen,
aber ich sehe nicht, wie man mit ihnen zu einer effektiven Verständigung kommen kann.
Selbst die Tiere, bei denen ich manchmal den Funken von Intelligenz entdecke,
erscheinen mir unergründlich
und in einer von ihrer Natur aus langsamen Veränderung begriffen.
Ich sehe Insektenstaaten, die vollkommen strukturiert sind,
höhere Säugetiere, die rudimentäre Werkzeuge benutzen,
aber sie wiederholen ihre Verhaltensmuster in einer langsamen genetischen Veränderung,
so als wären sie immer die ersten Vertreter ihrer Art.
Und wenn ich die Fähigkeiten der Pflanzen
und der Tiere feststelle, die vom Menschen verändert und domestiziert wurden,
erkenne ich seine Absicht, die sich einen Weg bahnt und die Welt menschlich macht.
Die Definition des Menschen anhand seiner Gesellschaftlichkeit genügt mir nicht,
da dies nicht seinen Unterschied zu zahlreichen Arten ausmacht;
auch seine Arbeitskraft ist nicht das Charakteristische,
wenn man sie mit der kräftigerer Tiere vergleicht;
selbst die Sprache genügt nicht, um ihn in seinem Wesen zu definieren,
da wir ja von Kommunikationscodes und -formen zwischen verschiedenen Tieren wissen.
Wenn dagegen
jeder neue Mensch auf eine von anderen veränderte Welt trifft
und von dieser beabsichtigten Welt gestaltet wird,
stelle ich seine Fähigkeit fest, das Zeitliche zu speichern und sich ihm anzuschließen.
Das heißt, ich entdecke seine sozial-geschichtliche Dimension,
nicht nur seine soziale.
Wenn man die Dinge so sieht, kann ich nun folgende Definition versuchen:
Der Mensch ist das geschichtliche Wesen,
dessen Art des gesellschaftlichen Handelns seine eigene Natur verwandelt.
Wenn ich vom vorher Gesagten ausgehe, muss ich wohl akzeptieren,
dass dieses Wesen seine physische Beschaffenheit absichtlich verändern kann.
Und so geschieht es ja heutzutage.
Es begann mit dem Gebrauch von Instrumenten,
die er als äußere Prothesen vor seinen Körper stellte
und die ihm erlaubten, die Fähigkeiten seiner Hände zu erweitern,
seine Sinnesorgane zu vervollkommnen
und seine Kraft und Arbeitsqualität zu erhöhen.
Von Natur aus war er nicht dazu befähigt, sich im Wasser und in der Luft zu bewegen.
Trotzdem schuf er Bedingungen, um sich in diesen Elementen fortzubewegen,
bis er damit anfing, seine natürliche Umgebung zu verlassen, nämlich den Planeten Erde.
Heute ist er außerdem dabei, in seinen eigenen Körper einzudringen,
indem er seine Organe ersetzt,
in seine Hirnchemie eingreift,
künstliche Befruchtung im Reagenzglas betreibt und seine Gene manipuliert.
Wenn man mit der Idee von »Natur«
die Beständigkeit hervorheben wollte,
ist eine solche Idee heute unangebracht,
selbst wenn man sie auf das Stofflichste des Menschen,
d.h. auf seinen Körper, anwendet.
Und was eine »natürliche Moral«,
ein »Naturrecht«
oder »natürliche Institutionen« betrifft,
finden wir ganz im Gegensatz dazu,
dass auf diesem Gebiet alles sozial-geschichtlich ist
und dass hier nichts von Natur aus existiert.
Neben der Auffassung, die von einer menschlichen Natur spricht,
hat noch eine andere Auffassung gewirkt, die von der Passivität des Bewusstseins sprach.
Diese Ideologie betrachtete den Menschen
als eine Wesenheit, die als Antwort auf die Reize der natürlichen Welt handelt.
Was als grober Sensualismus begann,
wurde nach und nach von Strömungen verdrängt,
in denen die gleiche Idee von der Passivität des Bewusstseins erhalten wurde.
Und selbst wenn sie der Aktivität
und der Verwandlung der Welt
den Vorrang vor der Interpretation ihrer Tatsachen gaben,
fassten sie besagte Aktivität als Folge von Bedingungen auf, die außerhalb des Bewusstseins liegen.
Aber jene althergebrachten Vorurteile
bezüglich der menschlichen Natur und der Passivität des Bewusstseins drängen sich heutzutage
in verwandelter Form auf,
und zwar mit Kriterien wie »der natürlichen Auswahl,
die durch den Kampf ums Überleben der Anpassungsfähigsten entsteht«.
Solch eine zoologische Auffassung
wird in ihrer jüngsten Version
und bei ihrer Übertragung auf die Welt der Menschen versuchen,
die vorhergegangene Dialektik der Rassen und Klassen
durch eine Dialektik zu überwinden, die »natürlichen« Wirtschaftsgesetzen unterliegt,
welche die gesamte gesellschaftliche Aktivität von selbst regeln.
Und wieder einmal
wird der Mensch an sich unterdrückt und verdinglicht.
Wir haben nun die Auffassungen betrachtet, die den Menschen
ausgehend von theoretischen Verallgemeinerungen erklären wollen
und die Behauptung von der Existenz einer menschlichen Natur
und eines passiven Bewusstseins vertreten.
Im entgegengesetzten Sinn
betonen wir die Notwendigkeit,
von der Einzigartigkeit des Menschen auszugehen;
wir betonen das Sozial-Geschichtliche und Nicht-Natürliche am Phänomen Mensch,
und wir bekräftigen außerdem die Tätigkeit seines die Welt verändernden Bewusstseins,
und zwar gemäß seiner Absicht.
Wir haben sein Leben als ein vor Situationen gestelltes Leben betrachtet
und seinen Körper als unmittelbar wahrgenommenen natürlichen Gegenstand gesehen,
der ebenfalls zahlreichen Anweisungen seiner Absicht unmittelbar unterliegt.
Demzufolge drängen sich uns folgende Fragen auf:
1. Was bedeutet »Das Bewusstsein ist aktiv«,
das heißt, wie kann es seine Absicht auf den Körper richten
und durch ihn die Welt verändern?
2.
Was bedeutet »Die menschliche Konstitution ist eine sozial-geschichtliche«?
Diese Fragen müssen vom einzelnen Dasein her beantwortet werden,
um nicht in theoretische Verallgemeinerungen zurückzufallen,
aus denen später ein System zur Interpretation abgeleitet würde.
Auf diese Weise, um die erste Frage zu beantworten,
wird man mit unmittelbarer Klarheit erfassen müssen,
wie die Absicht auf den Körper wirkt.
Um die zweite Frage zu beantworten,
wird man wohl von der offenkundigen Zeitlichkeit
und Intersubjektivität im Menschen ausgehen müssen,
und nicht von allgemeinen Gesetzen der Geschichte und der Gesellschaft.
Kommen wir also zum ersten Punkt.
Um meinen Arm auszustrecken,
die Hand zu öffnen und einen Gegenstand zu fassen,
ist es notwendig, dass ich Information über die Lage meines Armes und meiner Hand bekomme.
Das geschieht dank der kinästhetischen und koenästhetischen Wahrnehmungen,
d.h. Wahrnehmungen meines Innenkörpers.
Dafür bin ich mit Sensoren ausgestattet, die spezialisierte Aufgaben erfüllen,
genauso wie für die äußeren Sinne dies Sensoren für den Tast-, den Hörsinn etc. erfüllen.
Ich muss außerdem visuelle Information
über die Entfernung meines Körpers zum Gegenstand erhalten.
D.h. bevor ich den Arm ausstrecke,
habe ich umfassende Information bekommen,
und zwar als eine Art »Wahrnehmungsstruktur«
und nicht als eine Ansammlung getrennter Wahrnehmungen.
Also werte ich in dem Maß, in dem ich mich bereits im Begriff befinde, den Gegenstand in die Hand zu nehmen,
die Information aus und verwerfe diejenige, die mit dem Vorgang nichts zu tun hat.
Um die Wahrnehmungsstruktur zu lenken, die zur Absicht passt, den Gegenstand in die Hand zu nehmen,
genügt mir die Erklärung nicht, dass ich einfach passiv Wahrnehmungen empfange.
Das wird mir umso klarer, je mehr ich die Bewegung beginne
und sie in einer Rückkopplung mit der Information, die mir meine Sinne in diesem Moment liefern, anpasse.
Das In-Bewegung-Setzen des Armes
und die Anpassung dieser Bewegung
lässt sich auch nicht mittels der Wahrnehmung erklären.
Um zu vermeiden, dass ich während dieser Ü*** meine Wahrnehmungen durcheinanderbringe,
habe ich beschlossen, die Augen zu schließen
und mich vor den Gegenstand zu stellen, wobei ich die Bewegungen meines Armes und meiner Hand steuere.
Erneut nehme ich die inneren Empfindungen wahr, aber da ich den Gegenstand jetzt nicht sehe,
ist es schwierig, seine Entfernung einzuschätzen.
Wenn ich in der Vorstellung die Lage des Gegenstandes falsch berechne,
und ihn mir an einem anderen Ort vorstelle,
dann wird meine Hand ihn bestimmt nicht treffen.
D.h. meine Hand wird sich in die Richtung bewegen, die mein visuelles Bild »vorgezeichnet« hat.
Ähnliches kann ich mit den verschiedenen äußeren Sinnen erfahren,
die Information über die Phänomene liefern werden
und denen auch Bilder entsprechen werden,
die scheinbar »Kopien« der Wahrnehmung sein werden.
So kann ich mit Bildern rechnen, die dem Geschmacks-, dem Geruchssinn usw. entsprechen,
sowie mit solchen, die den inneren Sinnen entsprechen
wie Lage, Bewegung, Schmerz, Säurespiegel, innerer Druck usw.
Jedoch zurück zum Thema:
Ich stelle fest, dass es eben die Bilder sind, die die Aktivität des Körpers in Gang setzen,
und obwohl sie die Wahrnehmung wiedergeben,
besitzen sie große Beweglichkeit,
schwanken und verwandeln sich – sowohl freiwillig als auch unfreiwillig.
Hier muss ich erwähnen, dass für die naive Psychologie
die Bilder passiv waren
und nur dazu dienten, die Grundlage für die Erinnerung zu liefern.
Demzufolge fielen sie in dem Maß, wie sie sich von der Bestimmung durch die Wahrnehmung trennten,
in die Kategorie der bedeutungs- und zusammenhangslosen Phantasie.
Damals basierte ein ganzes pädagogisches System
auf dem Auswendiglernen von Texten.
Dadurch wurden die Kreativität und das Verständnis auf ein Minimum reduziert,
da – wie wir es schon erwähnten – das Bewusstsein passiv war.
Aber setzen wir unsere Überlegung fort.
Es ist offensichtlich, dass ich auch eine Wahrnehmung des Bildes habe,
was mir erlaubt, eines vom anderen zu unterscheiden,
so wie ich zwischen verschiedenen Wahrnehmungen unterscheide.
Oder kann ich etwa nicht in mir Bilder wieder wachrufen
und Dinge wieder vor mir haben, die ich mir früher vorgestellt habe?
Sehen wir mal. Wenn ich nun mit geöffneten Augen arbeite
und den Bewegungsablauf - das Aufnehmen des Gegenstandes - vollziehe,
dann komme ich gar nicht dazu, die Wirkung des Bildes wahrzunehmen, das die Wahrnehmung überlagert.
Aber wenn ich mir den Gegenstand
in einer verkehrten Lage vorstelle,
selbst wenn ich ihn in seiner richtigen Lage sehe,
wird sich meine Hand zum vorgestellten Gegenstand bewegen
und nicht zu dem, den ich sehe.
Es ist folglich das Bild, das die Handlung zum Gegenstand hin bestimmt,
und nicht die einfache Wahrnehmung.
Man kann dagegenhalten, dass es sich dabei um einen einfachen Reflex handelt,
der nicht einmal die Gehirnrinde erreicht,
weil er sich im Nervensystem des Rückenmarkes abspielt,
und der bereits eine Antwort gibt, bevor dieser Reiz analysiert werden kann.
Aber wenn man damit sagen will,
dass es automatische Antworten gibt,
die der Tätigkeit des Bewusstseins nicht bedürfen,
können wir eine Fülle von unfreiwilligen Tätigkeiten vorführen,
von natürlichen Tätigkeiten,
die dem menschlichen und verschiedenen tierischen Körpern gemeinsam sind.
Nur erklärt diese Haltung nichts vom Problem des Bildes.
Was die Bilder betrifft, die die Wahrnehmung überlagern,
werden wir hinzufügen,
werden wir hinzufügen, dass dies in allen Fällen auftritt
– selbst wenn wir nicht dazu kommen, es mit Deutlichkeit zu beobachten.
Wir müssen auch Folgendes berücksichtigen:
Allein durch die Tatsache, dass man sich den Arm visuell in Bewegung vorstellt,
wird er sich nicht bewegen.
Der Arm wird sich in Bewegung setzen,
wenn ein Bild ausgelöst wird, das zum Innenkörper hin ausgerichtet ist
und den inneren Wahrnehmungen seiner Ebene entspricht.
Mit dem visuellen Bild geschieht Folgendes:
Es zeichnet die Richtung vor, in die sich der Arm bewegen soll.
Solche Behauptungen werden im Schlaf bestätigt,
wenn der Körper des Schlafenden
trotz der Fülle von Bildern
ruhig bleibt.
Und es ist wohl klar, dass seine Vorstellungslandschaft verinnerlicht ist
und deswegen seine Bilder auf den Innenkörper gerichtet sind
und nicht auf die äußeren Muskeln.
Im Schlaf neigen die äußeren Sinne dazu, »sich zurückzuziehen«
und ebenso das Vorzeichnen der Bilder.
Wenn man als Beispiel die Erregung bei Alpträumen oder beim Schlafwandeln nimmt, werden wir antworten,
dass man dabei von der Ebene des Tiefschlafes zur Ebene des aktiven Halbschlafes übergeht;
die äußeren Sinne aktivieren sich
und die Bilder beginnen sich zu veräußerlichen
und setzen den Körper in Bewegung.
Wir werden uns weder mit dem Thema des Vorstellungsraumes beschäftigen
noch mit der Übersetzung, Verformung und Verwandlung von Impulsen.
Dies alles wird im Essay »Psychologie des Bildes« ausführlich behandelt.
Mit dem, was wir bis jetzt gesehen haben, können wir uns nun anderen Ideen widmen,
wie z.B. der Kopräsenz, der zeitlichen Struktur des Bewusstseins, des Blickes und der Landschaft.
Irgendwann komme ich in mein Zimmer
und nehme das Fenster wahr. Ich erkenne es, es ist mir bekannt.
Ich habe zwar eine neue Wahrnehmung von ihm,
aber außerdem wirken frühere Wahrnehmungen,
die – in Bilder verwandelt – in mir gespeichert sind.
Es fällt mir jedoch auf,
dass in einer Ecke des Glases ein Sprung ist ...
»Das war vorher nicht da«, sage ich zu mir,
wenn ich die neue Wahrnehmung mit dem vergleiche,
was ich von früheren gespeichert habe.
Außerdem bin ich in gewisser Weise überrascht.
Das Fenster früherer Wahrnehmungsakte ist in mir gespeichert
– aber nicht auf passive Art und Weise wie eine Fotografie,
sondern aktiv, wie die Bilder eben sind.
Das Gespeicherte ist gegenüber dem wirksam, was ich wahrnehme,
selbst wenn seine Entstehung der Vergangenheit angehört.
Es handelt sich um eine ständig vergegenwärtigte Vergangenheit, sie ist immer vorhanden.
Bevor ich mein Zimmer betrat, ging ich wie selbstverständlich davon aus,
dass sich das Fenster in einwandfreiem Zustand befinden müsste;
es ist nicht so, dass ich darüber nachgedacht hätte, sondern ich rechnete einfach damit.
Das Fenster als solches war zwar in meinen Gedanken in diesem Moment nicht präsent,
aber es war kopräsent.
Es war innerhalb des Bereiches von Gegenständen, die sich in meinem Zimmer befinden.
Dank dieser Kopräsenz,
dieser vergegenwärtigten und die Wahrnehmung überlagerten Speicherung,
kann mein Bewusstsein mehr als gegeben annehmen, als es wahrnimmt.
In diesem Phänomen finden wir die grundlegendste Funktionsweise der Glaubensgewissheit.
Es ist, als würde ich im erwähnten Beispiel zu mir sagen:
»Ich glaubte, dass das Fenster in einwandfreiem Zustand sei.«
Wenn ich beim Betreten meines Zimmers
Phänomene vorfinden würde, die einem anderen Bereich von Gegenständen zugehörig sind,
z.B. ein Flugzeugtriebwerk oder ein Nilpferd,
dann würde mir solch eine surrealistische Situation unglaubwürdig erscheinen,
und zwar nicht, weil diese Gegenstände nicht existieren,
sondern weil ihre Lage außerhalb des Gebietes der Kopräsenz liegt,
die mit meinen Speicherungen übereinstimmt.
Nun gut, ich bin in mein Zimmer gekommen, geleitet von der Absicht,
geleitet von den Bildern, mir einen Kugelschreiber zu holen.
Während ich ging, habe ich vielleicht mein Ziel vergessen,
aber die Bilder, die ich in unmittelbarer Zukunft erreichen wollte,
wirkten weiter auf kopräsente Weise.
Die Zukunft des Bewusstseins war aktualisiert, war in der Gegenwart.
Unglücklicherweise fand ich diesen Sprung im Fensterglas
und meine Absichten veränderten sich aufgrund der Notwendigkeit, andere dringliche Sachen zu erledigen.
Nun, in jedem gegenwärtigen Augenblick meines Bewusstseins
kann ich die Überkreuzung,
die Überkreuzung von drei verschiedenen Zeiten,
von Speicherungen und auf die Zukunft bezogenen Vorstellungsakten beobachten, die auf kopräsente und strukturierte Weise wirken.
Der gegenwärtige Augenblick gestaltet sich in meinem Bewusstsein
als ein aktives zeitliches Feld, das drei verschiedene Zeiten beinhaltet.
Die Dinge sind hier
völlig verschieden zu dem, was mit der Zeit des Kalenders geschieht,
in der der heutige Tag weder vom gestrigen noch vom morgigen berührt wird.
Im Kalender und auf der Uhr
unterscheidet sich das »Jetzt« vom »Schon-nicht-mehr« und vom »Noch-nicht«.
Außerdem sind die Ereignisse hintereinander
in linearer Abfolge angeordnet
und ich kann nicht behaupten, es handle sich um eine Struktur,
sondern um eine Anordnung innerhalb einer vollständigen Reihe, die ich »Kalender« nenne.
Aber wir werden auf diesen Punkt zurückkommen, wenn wir das Thema der Geschichtlichkeit und der Zeitlichkeit behandeln.
Für den Moment fahren wir mit dem fort, was wir vorher darüber gesagt haben:
dass das Bewusstsein mehr als gegeben annimmt, als es wahrnimmt,
und zwar weil es mit dem rechnet, was aus der Vergangenheit als Speicherung kommt und die gegenwärtige Wahrnehmung überlagert.
Mit jedem Blick, den ich auf einen Gegenstand werfe,
sehe ich ihn auf entstellte Art und Weise.
Wir behaupten das nicht in dem Sinn, wie es die moderne Physik erklärt,
die mit Deutlichkeit unsere Unfähigkeit darstellt, das Atom
und die Wellenlängen, die ober- oder unterhalb unserer Wahrnehmungsschwellen liegen, zu erfassen.
Wir sagen dies in Bezugnahme auf die Überlagerung der Wahrnehmung,
die durch die Bilder der Speicherungen und der auf die Zukunft gerichteten Vorstellungen
zu Stande kommt.
Wenn ich auf dem Land einen wunderschönen Sonnenaufgang betrachte,
ist die natürliche Landschaft, die ich beobachte,
nicht in sich so festgelegt,
sondern ich lege sie so fest,
ich gestalte sie aufgrund eines ästhetischen Schönheitsideals, das mir zusagt;
aufgrund des Gegensatzes zum Stadtleben;
vielleicht aufgrund einer Person, die mich begleitet,
und aufgrund der Suggestion, die dieses Licht in mir hervorruft
als Hoffnung auf eine offene Zukunft.
Und dieser besondere Frieden, den ich erfahre,
erweckt in mir die Illusion, dass ich passiv beobachte,
während ich in Wirklichkeit aktiv
zahlreiche Inhalte hineinsetze, die den einfachen natürlichen Gegenstand überlagern.
Und das hier Gesagte gilt nicht nur für dieses Beispiel,
sondern für jeden Blick, den ich auf die Wirklichkeit werfe.
In den »Historiologischen Diskussionen« haben wir gesagt,
dass die natürliche Bestimmung des Körpers die Welt ist
und dass es genügt, seine Beschaffenheit zu betrachten, um diese Aussage zu bestätigen.
Seine Sinnesorgane und seine Ernährungs-, Fortbewegungs- und Fortpflanzungsorgane usw.
sind von Natur aus dazu geschaffen, in der Welt zu sein.
Aber außerdem gibt es das Bild, das durch den Körper seine auf Veränderung gerichtete Energie in Gang setzt;
dies geschieht nicht, um die Welt wiederzugeben,
um eine gegebene Situation widerzuspiegeln,
sondern im Gegenteil,
um diese gegebene Situation zu verändern.
Bei diesem Vorgang stellen die Gegenstände
Beschränkungen oder Erweiterungen der körperlichen Möglichkeiten dar,
und die fremden Körper
erscheinen als Vervielfältigung dieser Möglichkeiten insofern,
als sie Absichten unterliegen, die als ähnlich zu den Absichten erkannt werden,
von denen der eigene Körper geleitet wird.
Warum hätte es der Mensch nötig, die Welt
und sich selbst zu verwandeln?
Eben aufgrund der Situation von Endlichkeit und Entbehrungen in Zeit und Raum, in der er sich befindet
und die er als körperlichen Schmerz und geistiges Leiden empfindet.
So ist die Überwindung des Schmerzes nicht nur eine tierische Antwort,
sondern eine zeitliche Gestaltung, in der die Zukunft den Vorrang hat
und die zu einem Impuls wird, der für das Leben grundlegend ist,
auch wenn die Dringlichkeit in einem bestimmten Augenblick nicht vorhanden ist.
Deswegen wird neben der unmittelbaren reflexartigen und natürlichen Antwort
die verzögerte Antwort, die den Schmerz zu vermeiden sucht,
vom geistigen Leiden angesichts der Gefahr ausgelöst;
sie tritt in der Vorstellung als künftige Möglichkeit bzw. als gegenwärtige Tatsache auf,
in der der Schmerz in anderen Menschen gegenwärtig ist.
Die Überwindung des Schmerzes erscheint also
als ein grundlegendes Projekt, das zur Handlung führt.
Gerade dies hat die Kommunikation zwischen verschiedenen Körpern und Absichten ermöglicht,
aus der heraus die so genannte »soziale Konstitution« entsteht.
Die soziale Konstitution ist so geschichtlich wie das menschliche Leben selbst;
sie ist ein das menschliche Leben gestaltender Faktor.
Ihre Verwandlung ist zwar stetig,
aber von anderer Art als die der Natur,
da bei dieser die Veränderungen nicht aufgrund von Absichten zu Stande kommen.
Die gesellschaftliche Organisation setzt sich fort und erweitert sich,
aber dies kann nicht nur aufgrund des Vorhandenseins von gesellschaftlichen Objekten zu Stande kommen.
Obwohl diese Träger menschlicher Absichten sind,
konnten sie sich nicht von sich aus weiter ausbreiten.
Die Kontinuität ist durch die menschlichen Generationen gegeben,
die nicht einfach neben- oder nacheinander bestehen,
sondern in Wechselwirkung stehen und sich gegenseitig verändern.
Diese Generationen, die Kontinuität und Entwicklung ermöglichen,
sind dynamische Strukturen.
Sie sind die gesellschaftliche Zeit, die sich in Bewegung befindet.
Ohne sie würde die Gesellschaft in einen natürlichen Zustand zurückfallen und somit ihre Eigenschaft als Gesellschaft verlieren.
Andererseits gibt es in jedem Moment der Geschichte
Generationen, die aus verschiedenen zeitlichen Ebenen stammen,
verschiedene Speicherungen besitzen und verschiedene auf die Zukunft bezogene Vorstellungen haben,
die verschiedenartige situationsbezogene Landschaften
und Glaubensgewissheiten gestalten.
Der Körper, der Körper
und das Verhalten von Kindern und Greisen
weisen für die aktiven Generationen auf eine Gegenwart dessen hin,
woher man kommt und wohin man geht.
Und innerhalb der beiden Extreme dieser dreifachen Beziehung
gibt es wiederum extreme Positionen bzgl. der Zeitlichkeit.
Aber diese Situation bleibt nie bestehen,
da die aktiven Generationen altern und die Greise sterben,
während sich die Kinder verwandeln und anfangen, aktive Stellungen zu besetzen.
Unterdessen wird der Aufbau der Gesellschaft durch neue Geburten kontinuierlich wiederhergestellt.
Wenn durch Abstraktion das unablässige Fließen »angehalten« wird,
können wir von einem »geschichtlichen Moment« sprechen.
Seine Mitglieder, die sich auf demselben gesellschaftlichen Schauplatz befinden,
können zwar als »Zeitgenossen«,
als in ein und derselben Zeit Lebende, betrachtet werden,
aber wir beobachten, dass sie weder das gleiche Alter noch die gleiche innere Zeitlichkeit haben
bezüglich ihrer Prägungslandschaft,
ihrer momentanen Situation
und ihres Projektes.
In Wirklichkeit stellt sich die Generationendialektik
zwischen den direkt benachbarten »Altersschichten« ein,
die die Führung der zentralen Tätigkeit,
der gesellschaftlichen Gegenwart,
je nach ihren Interessen und Glaubensgewissheiten für sich in Anspruch zu nehmen suchen.
Es ist die der Gesellschaft innewohnende Zeitlichkeit,
die auf strukturierte Weise das geschichtliche Werden erklärt,
in dem verschiedene generationsbedingte Anhäufungen in Wechselwirkung stehen.
Das geschichtliche Werden wird also nicht durch die lineare Abfolge von Phänomenen erklärt, die in der Art
der Zeitfolge des Kalenders nebeneinander gestellt werden, so wie es uns die naive Geschichtsschreibung darstellt.
Da ich in einer geschichtlichen Welt, in der ich meine Landschaft gestalte, gesellschaftlich geformt worden bin,
interpretiere ich alles, worauf ich meinen Blick richte.
Hier ist zwar meine persönliche Landschaft gegenwärtig,
aber auch eine gemeinschaftliche Landschaft,
die in diesem Moment von großen Menschengruppen geteilt wird.
Wie wir vorher schon sagten,
bestehen zur selben Zeit verschiedene Generationen.
In einem Moment – um ein grobes Beispiel zu geben –
leben gleichzeitig diejenigen aus der Zeit vor dem Transistor
und diejenigen, die von Geburt an vom Computer umgeben waren.
Zahlreiche Gestaltungen unterscheiden sich bei beiden Erfahrungswelten,
und zwar nicht nur in der Art und Weise des Handelns,
sondern auch in der des Denkens und Fühlens ...
Und das, was bei den gesellschaftlichen Beziehungen
und der Produktionsweise einer Epoche funktionierte,
funktioniert nun langsam oder manchmal ganz abrupt nicht mehr.
Man erwartete ein Ergebnis in der Zukunft
und diese Zukunft ist eingetreten,
aber die Dinge haben sich nicht so entwickelt,
wie man sie geplant hatte.
Weder jene Handlung noch jene Sensibilität noch jene Ideologie
stimmen mit der neuen Landschaft, die sich gesellschaftlich durchsetzt, überein.
Um mit dem Schema dieser Ideen abzuschließen,
die in den heute herausgegebenen Bänden zum Ausdruck kommen,
werde ich hinzufügen, dass der Mensch aufgrund seiner Öffnung und seiner Freiheit, zwischen Situationen auszuwählen,
verzögerte Antworten zu geben und sich die Zukunft vorzustellen,
sich auch selbst verneinen kann,
Aspekte seines Körpers verneinen kann,
diesen sogar vollständig verneinen kann – wie im Falle des Selbstmordes – oder auch andere Menschen verneinen kann.
Diese Freiheit hat es ermöglicht, dass einige sich illegitimerweise der gesellschaftlichen Gesamtheit bemächtigten,
d.h., sie verneinen die Freiheit und die Absichtlichkeit der anderen,
indem sie sie zu Prothesen, zu Instrumenten ihrer eigenen Absichten reduzieren.
Das ist die Grundlage der Diskriminierung und ihre Vorgehensweise
ist die körperliche, die wirtschaftliche, die sexuelle, die rassistische und die religiöse Gewalt.
Die Gewalt kann sich errichten und fortpflanzen
dank der Beherrschung des gesellschaftlichen Regulations- und Kontrollapparates, das heißt des Staates.
Infolgedessen bedarf die gesellschaftliche Organisation
einer fortschrittlichen Art der Koordination,
die jegliche Konzentration von Macht unterbindet, sei sie privat oder staatlich.
Aber da man gewöhnlich den Apparat des Staates
mit der gesellschaftlichen Wirklichkeit verwechselt,
sollten wir hinzufügen, dass, weil die Gesellschaft - und nicht der Staat -
Hersteller der Güter und Waren ist,
sich der Besitz der Produktionsmittel logischerweise auch in Händen der Gesellschaft befinden muss.
Erwartungsgemäß haben diejenigen, die das Mensch-Sein von anderen abgewertet haben,
damit neuen Schmerz und neues Leiden geschaffen.
Dadurch wurde innerhalb der Gesellschaft der alte Kampf gegen die Widrigkeiten der Natur wiederbelebt.
Aber diesmal stehen diejenigen, die andere, die Gesellschaft und die Geschichte »naturalisieren« möchten, auf der einen Seite,
und die Unterdrückten, die ihr Mensch-Sein in Anspruch nehmen, indem sie die Welt menschlich machen, auf der anderen Seite.
Deshalb heißt »menschlich machen«
aus der Verdinglichung herauszutreten, um die Absichtlichkeit jedes Menschen
und den Vorrang der Zukunft über die gegenwärtige Situation zu bekräftigen.
Es ist die Vorstellung einer möglichen und besseren Zukunft,
die die Veränderung der Gegenwart erlaubt
und die jede Revolution und jeden Wandel ermöglicht.
Demzufolge ist der Druck der unterdrückenden Bedingungen nicht ausreichend,
um eine Veränderung in Gang zu setzen,
sondern es ist notwendig, zu erkennen, dass solch eine Veränderung möglich ist
und dass sie von der menschlichen Handlung abhängt.
Dieser Kampf spielt sich nicht zwischen mechanischen Kräften ab.
Es ist kein natürlicher Reflex.
Es ist ein Kampf zwischen menschlichen Absichten.
Und genau das erlaubt es uns, von Unterdrückten und Unterdrückern zu sprechen,
von Gerechten und Ungerechten,
von Helden und Feiglingen.
Er stellt die einzige Möglichkeit dar,
die gesellschaftliche Solidarität und die Verpflichtung zur Befreiung der Diskriminierten sinnvoll auszuüben
– seien sie Minderheiten oder Mehrheiten.
Schließlich glauben wir bezüglich des Sinnes
der menschlichen Handlungen nicht, dass sie eine sinnlose »Zuckung« sind,
eine »nutzlose Leidenschaft«,
ein Versuch, der sich irgendwann in der Absurdität auflösen wird.
Wir sind der Meinung, dass die gültige Handlung diejenige ist, die in anderen endet
und auf ihre Freiheit ausgerichtet ist.
Ebenso wenig glauben wir, dass das Schicksal der Menschheit
von vorherbestimmten Ursachen festgelegt ist,
die jede mögliche Anstrengung zunichte machen würden,
sondern vielmehr von der Absicht,
die – indem sie den Völkern immer mehr zu Bewusstsein gelangt –
sich einen Weg in Richtung einer universellen menschlichen Nation bahnt.
Das ist alles. Vielen Dank.
Eine Produktion des Studienzentrums
Punta de Vacas - 2012