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Als Bürger jüdischen Glaubens, der in Deutschland geboren und aufgewachsen ist,
sind die beiden Ereignisse des 9. Novembers - der Mauerfall und die Reichspogromnacht -
für mich persönlich historische Daten,
die die Gegensätzlichkeit in der deutschen Geschichte symbolisieren.
Was empfinden Sie angesichts des Zusammentreffens dieser beiden Ereignisse am 9. November?
Ich empfinde Ähnliches wie Sie:
Dass der 9. November ein ganz besonderer Tag in der deutschen Geschichte ist.
Einmal steht er für die dunkelste Phase unserer Geschichte.
Die Reichspogromnacht am 9. November war ein Ereignis,
bei dem Menschen jüdischen Glaubens in unglaublicher Weise gedemütigt wurden -
Geschäfte zerstört, Synagogen zerstört, öffentlich gebrandmarkt,
ganze Familien verschleppt in Konzentrationslager.
Es war ein wirklicher Tiefpunkt der deutschen Geschichte erreicht.
Leider hat sich die Geschichte dann später mit der Shoah
und dem Zivilisationsbruch noch dramatischer entwickelt.
Und gleichzeitig ist der 9. November im Jahre 1989 dann ein Tag großer Freude,
großer Hoffnung gewesen. Für mich bedeutet das,
dass dieser 9. November beide Ereignisse - in verschiedenen Jahren natürlich -
umfasst, dass wir uns immer unserer Vergangenheit bewusste sein müssen,
damit wir verantwortlich die Zukunft gestalten können. Und der 9. November 1989 zeigt:
Man kann es auf friedliche Weise schaffen, Demokratie und Rechtsstaatlichkeit zu erreichen,
und das ist deshalb auch eine Hoffnung für die Zukunft.
Der 9. November 1989, der Tag des Mauerfalls,
ist ja noch nicht so lange her und es gibt noch viele,
die sich an ihn erinnern können. Anders steht es mit der Reichspogromnacht.
Die Generation, die damals gelebt hat und aus der einige danach als Zeitzeugen gedient haben,
ist mittlerweile fast ausgestorben. Welche Programme sieht die Bundesregierung vor,
um die Erinnerung an den Nationalsozialismus dennoch wachzuhalten?
Wir haben glücklicherweise noch Zeitzeugen, und auch ich persönlich konnte schon viele treffen.
Und als erstes möchte ich ihnen ein ganz herzliches Dankeschön sagen.
Denn es ist ja alles andere als selbstverständlich, dass Menschen, die so Schreckliches erlebt haben,
die in Konzentrationslagern waren, die verfolgt waren, überhaupt wieder mit uns
- den Deutschen - heute ins Gespräch kommen.
Zweitens haben wir natürlich Vorsorge für die Zeit zu treffen,
in der Zeitzeugen eines Tages nicht mehr da sein werden.
Und deshalb gibt es eine umfassende Gedenkkultur.
Gerade in der Hauptstadt Berlin gibt es ja viele Orte, an denen man die Dinge nachempfinden kann:
Orte wie das Denkmal für die ermordeten Juden Europas,
wie die Topographie des Terrors oder aber auch das Jüdische Museum.
Gerade das Jüdische Museum ist ein Ort, an dem der gesamte Schmerz
über die Vernichtung jüdischen Lebens in Deutschland noch einmal nachzuempfinden ist.
Mir geht es jedenfalls so, wenn ich dort bin, weil man gesehen hat,
wie viel Deutschland - als Ganzes - verloren hat, indem es das jüdische Leben so zerstört hat.
Wir haben dann, weit über das ganze Land verstreut, verschiedene Aktionen - und eine,
die ich sehr gut finde, ist die Aktion "Stolpersteine".
Das heißt, dass an Orten, in allen Städten Deutschlands eigentlich, darauf hingewiesen ist, was
- zum Beispiel auch am 9. November, in der Reichspogromnacht
oder auch bei anderen Verfolgungen von Juden - passiert ist.
Und das heißt: Man kommt immer wieder auf einer Straße an einen Ort und muss sich erinnern.
Das finde ich sehr wichtig. Und dann gibt es seitens der Bundesregierung, aber auch der Länder,
viele Programme gegen Extremismus, gegen Antisemitismus.
Und außerdem brauchen wir die Zivilcourage aller Menschen im Lande,
dass sie Antisemitismus nicht dulden.
Auch heute noch gibt es trotzdem eine große Unaufgeklärtheit
gegenüber jüdischen Mitbürgern in unserer Gesellschaft.
So ist, laut einer vom Bundestag beauftragten Untersuchung im März 2013,
jeder fünfte Deutsche latent antisemitisch.
Dennoch fühlen sich die meisten Juden meiner Generation in Deutschland sicher.
Was kann der deutsche Staat, was kann die Politik tun, damit das so bleibt?
Es ist erst einmal eine sehr gute Erfahrung,
dass wir heute wieder lebendiges jüdisches Leben in Deutschland haben.
Die Bundesregierung unterstützt dieses Leben. Wir sind auch dankbar für die große Arbeit,
die der Zentralrat der Juden leistet - der Integration für die Menschen jüdischen Glaubens,
die zu uns aus Russland gekommen sind.
Hier findet eine große Integrationsarbeit statt, für die ich Dankeschön sage.
Und wir müssen trotzdem sagen: Es ist bedrückend und fast nicht zu erklären,
aber doch die Realität, dass keine jüdische Einrichtung ohne Polizeischutz sein kann;
dass vor den Kindergärten, vor den Schulen, vor den Einrichtungen
immer deutsche Polizisten stehen müssen und bewachen müssen.
Deshalb muss immer wieder darüber gesprochen werden,
dass es hier keine antisemitischen Tendenzen gibt, aber wir haben dieses Ziel noch nicht erreicht.
Der moderne Antisemitismus definiert sich heutzutage auch durch Kritik an Israel.
Was als akzeptable, manchmal auch nachvollziehbare Meinung beginnt,
enttarnt sich jedoch oftmals als bloßer Antisemitismus.
Wie schätzen Sie den wachsenden Anti-Zionismus in Deutschland ein
und wie könnten der Staat und die Gesellschaft dem entgegenwirken?
Ich glaube, dass wir hier sehr offen mit den Menschen in Deutschland sprechen müssen.
Es ist legitim, wenn man Kritik - auch an der Politik Israels - übt.
Dennoch gehört die Verantwortung für die Sicherheit Israels zur Staatsraison Deutschlands.
Wir wollen einen Staat Israel, der in Frieden mit seinen Nachbarn leben kann.
Wir setzen uns deshalb für eine Zwei-Staaten-Lösung ein und hoffen auch,
dass hier Fortschritte im Friedensprozess gemacht werden.
Aber man darf nicht durch die Hintertür der Kritik an israelischer Politik
- und die gibt es ja auch in Israel,
unter den Einwohnern des Staates Israel gibt es ja auch ganz unterschiedliche politische Meinungen -,
die darf man äußern, aber wenn da pauschalisiert wird
und damit Antisemitismus und Anti-Zionismus zum Ausdruck kommen,
dann trete ich zumindest sehr entschieden dagegen auf.
Ein Thema, in das ich persönlich große Hoffnungen stecke,
sind die in diesem Jahr wieder aktiver aufgenommenen Friedensgespräche
zwischen Israel und der palästinensischen Regierung.
Wie kann der deutsche Staat den Friedensprozess im Nahen Osten fördern?
Wir setzen uns ganz offensiv für eine Zwei-Staaten-Lösung ein:
einen jüdischen Staat Israel und einen palästinensischen Staat.
Wir werben dafür, dass aufeinander zu gegangen wird,
dass jede Seite auch bereit ist, Kompromisse zu machen.
Ich habe dazu schon viele Gespräche mit dem israelischen Premierminister Netanjahu geführt,
genauso wie dem palästinensischen Präsidenten Abbas.
Wir unterstützen die amerikanischen Bemühungen des Außenministers Kerry sehr intensiv,
hier diesen Friedensprozess voranzubringen, und Deutschland ist bereit,
sich hier auch immer wieder einzubringen, wenn das gewünscht und gefordert wird.
Wir unterstützen die palästinensische Autonomiebehörde dadurch,
dass wir auch Unterstützung, Hilfe - materielle Hilfe - leisten,
bei der wirtschaftlichen Entwicklung helfen, weil wir glauben,
dass die wirtschaftliche Entwicklung entscheidend dafür ist,
dass Menschen auch an einen Friedensprozess glauben.
Und wir haben natürlich sehr intensive Beziehungen mit Israel.
Und was ich sehr wichtig finde ist, dass wir nicht nur über die Vergangenheit sprechen,
sondern, dass wir auch deutsch-israelische Regierungskonsultationen haben,
in denen wir auf breiter Ebene mit vielen Ressorts der israelischen Regierung zusammenarbeiten
und so unsere Beziehung auch intensivieren.
So hat Deutschland in beide Richtungen viele Kontakte und nutzt die auch dazu,
alle zu ermutigen, den schweren, aber aus meiner Sicht,
immer noch besten Weg eines Friedensprozesses zu gehen.