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„Das Blaue Büchlein, 366 Vermutungen“
Das ist die jüngste Publikation im Verlag Der Gesunde Menschenversand.
Niko Stoifberg, Sie sind der Autor. 35, Ihr erstes Buch. Stolz?
Es ist mir eher peinlich. Das sind ja eine Art Aphorismen,
etwas, das man herausgibt, wenn man 120 ist und so einen Bart hat.
Ein bisschen ist ja da –
Ein bisschen, ja. Aber eben, man macht das, wenn man
in einer Tonne lebt, oder unterm Olivenbaum, und seine Gedanken der letzten 120 Jahre
in Stein meisselt. Das ist ja bei mir nicht so.
Aber ich habe eine Entschuldigung.
Erstens habe ich dauernd gearbeitet, als diese Vermutungen entstanden sind.
Ich hab die nebenbei geschrieben.
Und zweitens waren die gar nie als Buch geplant.
Die Vermutungen sind eigentlich eine Kolumne im Kulturmagazin 041.
Matthias Burki, der das Büchlein rausgibt, kam mit dem Vorschlag dafür.
Aber jetzt kann man sich ja doch fragen: Aphorismen, wie Sie gesagt haben,
etwas, was alte Männer schreiben –
Wieso interessiert man sich für sowas?
Ich bin nie hingesessen mit der Absicht "ich schreibe jetzt diese Vermutungen".
Es handelt sich um Gedanken, die einem einfach in den Sinn kommen.
Wie sie jedem in den Sinn kommen.
Ab und zu gibt es einen Gedanken,
den man loswerden will, den man teilen will.
Den schreibt man dann auf.
Ich bin nie hingesessen, um 366 Vermutungen zu schreiben.
Eine, die mir geblieben ist: "Brustwarze ist das hässlichste deutsche Wort."
Ist es das?
Na ja, wenn du ein hässlicheres kennst, würde mich das interessieren.
Ich kenne keins. Gibt es eins?
Hm, ich überlege ...
Es gibt Wörter, die negativ aufgeladen sind ...
Aber ist die Idee: Für etwas so Schönes so ein hässlicher Ausdruck?
Es ist einfach erstaunlich, dass man für etwas doch Reizvolles
so ein Wort findet. Das sagt vielleicht auch etwas über diese Sprache.
Im Deutschen "drückt" man sich ja "aus". Nur schon das.
Wer kommt denn auf so eine Idee? Ist doch etwas schönes, "Expression"!
Wobei, nein, ist eigentlich genau dasselbe.
Vielleicht sind die Franzosen gar nicht besser.
Wir verstehen sie halt nicht so gut.
Wie kommt man zu solchen Beobachtungen?
Gibt es Momente, in denen du mit Leuten zusammen bist,
und dann kommt dir sowas in den Sinn?
Ja, das kommt vor. Ich studiere häufig an irgendwas rum.
Der Lehrer hat mir jeweils einen nassen Lappen ins Gesicht geschmissen,
wenn ich nicht bei der Sache war.
Das sind dann wohl die Momente, in denen einem andere Dinge in den Sinn kommen.
Gibt's eine Vermutung in dem Büchlein, die deine liebste ist?
Die du am schönsten findest?
Schön? Hmm ...
Oder am treffendsten?
Es gibt eine, die mich sehr beschäftigt, seit sie mir in den Sinn gekommen ist.
Jene, die sich ums Thema Schuld dreht. Kann man als Mensch
wirklich schuld sein sein an dem, was man tut?
Ich glaube nicht. Ich vermute, dass "Schuld" ein menschliches Konstrukt ist.
Man ist ein Produkt aus Genen und Erziehung, bisherigem Leben,
Diese beiden Faktoren machen uns zu dem, was wir sind.
Darum tun wir die Dinge, die wir tun.
Warum hat Anders Breivik diese Kinder umgebracht?
Hätte er nicht sagen können: "Halt, was tue ich hier?"
Wieso hat er es trotzdem getan? Weil eben einer ist, der sich
in diesem Moment so entscheidet. Von Schuld kann man da nicht sprechen.
Eine philosophische Diskussion.
Ja, wenn man sich das mal überlegt, dann wird einem schwindlig.
Dann zerfällt unser ganzes Gerechtigkeitsdenken.
Das sind so Gedanken, die einem dann bleiben.
Bis man sie irgendwann aufschreibt.
Das war jetzt ein relativ komplexer Gedanke.
Am Schluss bleibt dann doch nur ein Satz. Wie machst du das?
Gehst du nach Hause, setzt dich hin und destillierst Stunden um Stunden?
Nein. Meistens ist da zuerst ein Satz. Der fällt einem einfach zu.
Und dann merkt man, dass an dem Satz etwas dran ist.
Ich hab auch schon das Umgekehrte probiert,
einen komplizierten Gedanken zu komprimieren. Aber das funktioniert meistens nicht.
Oder wenn, dann kommt ein Murks raus.
"Das Blaue Büchlein" – wieso ist es blau?
Nun, es gibt ja diesen Ausdruck, "Fahrt ins Blaue".
Oder man "schiesst ins Blaue". Die Farbe Blau hat sowas Ungefähres.
Man ist sich nicht wirklich sicher, deshalb vermutet man eben.
Vermutungen also – du hast dich nicht zu Behauptungen hinreissen lassen?
Nein, ich wollte nie etwas behaupten.
Als Student schrieb ich für die Zeitung.
Da musste man jede Behauptung belegen können, mit einem Zitat.
Selbst wenn man etwas genau wusste, durfte man nicht einfach schreiben:
"Es ist so und so." Man musste schreiben:
Dieser und jener Experte hat gesagt, dass es so und so ist.
Das hat mich genervt. Und so dachte ich: "Ich schreibe lieber Vermutungen."
Dann muss ich nichts belegen.
... dann bin ich fein raus.