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Es ist schon lange, sehr lange her,
da lebte in der Provinz Kuku-khoto hoch oben auf dem Mülliberg
hinter den verödeten Mauern des Schlosses „Hall“,
eingesperrt und bewacht von einer bösen Tante
die kleine zierliche Prinzessin Tandaradei.
Diese Tante mit Namen Fifidschall
alt und welk wie die pergamentenen Blätter uralter Folianten
mißgönnte der Nichte ihre Schönheit und Jugend.
Neiderfüllt schmiedete sie in ihrer Bosheit immer neue Ränke, um dem
schönen Mädchen ihr Recht am Leben und an der Welt vorzuenthalten.
Das war eine unerträgliche Qual.
Blaß und mit verweinten Augenlidern saß die Prinzessin Tag und Nacht in den Nischen
der vergitterten Fensterhöhlen
und schaute sehnsuchtsvoll über die weiten Wälder in das Land.
Ihre Peinigerin aber stand ständig daneben und verfolgte
ihr Tun und Treiben mit den unsteten Blicken einer Eule.
Selbst wenn das arme Mädchen am Fenster eingeschlafen war,
wich die Tante nicht von ihrer Seite;
die falsche Wächterin der Tugend wachte unentwegt und schlief nie.
So gab es kein Entrinnen.
Außerdem waren Tür und Tor verriegelt und die Mauern hoch.
Das Schlimmste aber war, daß kein lebendes Wesen sich dem Schlosse nähern konnte.
Draußen vor dem Mülliberg lag ein grausiges Ungeheuer ein riesiger Drache,
der Schwefel und Feuer spie.
Von seiner hohen Warte aus
erspähte er mit seinen Stachel- umsäumten Schlangenaugen im Umkreis
von einer Meile jedes Stück Wild;
das kleinste Kaninchen konnte sich seinen Blicken nicht entziehen,
geschweige denn ein Jüngling oder Rittersmann,
der es wagen sollte, sich der Feste zu nähern,
um Prinzessin Tandaradei zu sehen oder gar zu entführen.
Gefüttert mit den besten Leckerbissen, mit Kosenamen belegt,
war dieser gefährliche Drache ein Verbündeter der Tante.
Er war ihr zugetan wie ein Schoß- hündchen und gehorchte ihr auf den Wink.
Prinzessin Tandaradei aber gab die Hoffnung nicht auf.
Sie besaß eine treue Seele, eine ergebene Dienerin – das war die Nachtigall.
Von dieser Nachtigall erhoffte sie ihre Befreiung.
Die schöne Gefangene trug heimlich auf der Brust
einen fünffarbigen Edelstein, der aus dem Haupte des Drachens stammte
und die Eigenschaft besaß, jedes gefiederte Tier,
das in seiner Nähe weilte, unsichtbar zu machen.
Dank dieses Zaubersteines
konnte die Prinzessin den Vogel vor den Blicken der Tante verbergen.
Dieser lebte in den weiten Falten ihres kostbaren Indigomantels, der reich mit
Gold geschmückt und mit den seltensten Fellen der chinesischen Feuermaus verbrämt war.
In jedem Jahre einmal, und zwar im Hochsommer, wenn die Rauhrosen blühten,
schwang sich die Nachtigall, die geflügelte Dienerin, hinaus zum Schlosse,
um von dem Herzeleid und der Sehnsucht ihrer jungen Herrin zu singen.
Doch bisher waren ihre Klagelieder in alle Winde verhallt.
Wieder war es Hochsommer geworden.
Wieder flog die Sendbotin der gefangenen Prinzessin hinaus.
Dieses Mal aber in eine den sonstigen Ausflügen entgegengesetzte Richtung.
Nach einigen Tagen gelangte sie, weit entfernt von der Provinz Kuku-khoto,
in einen ausgedehnten Park,
suchte sich ein lauschiges Plätzchen und wartete, bis der Mond aufging.
Hier in diesem Park, in Chinas altehrwürdiger Romantik,
lebte auf seinem Sommersitz ein reicher Mandarin namens Tschin-Tschin.
Ein bequemer Herr, ein Feinschmecker und Witwer dazu.
Mit seinen blanken Pausbäckchen und seinem runden Bäuchlein
sah er der Pagode des großen Tempels Montoro nicht ganz unähnlich.
Der Mond zog auf. Nun sang die Nachtigall.
Tju, tju, tju, tju, Tandaradei!
Ihr Lied drang durch die Nacht,
durch die schlafende Sommer- herrlichkeit des Mandaringartens,
drang in die offenen Gemächer des Hauses bis in die Ohren des dicken Tschin-Tschin,
der nicht schlafen konnte und Langeweile hatte.
Tschin-Tschin zog die Augenbrauen hoch, spitzte die Lippen, pfiff „tju tju“
und trippelte mit erhobenen Zeigefingern hinaus in den Garten.
Heute sang die Nachtigall herzzerreißend.
Es schmetterte und schluchzte, es jauchzte und klagte
wie die unüberwindliche Sehnsucht eines Mädchenherzens.
Das gefiel dem dicken Tschin-Tschin besonders gut.
Er wünschte sich schon lange eine kleine zierliche Frau,
die nach ihm so sehnsüchtig schmachtete wie das Lied dieser Nachtigall.
Um besser hören zu können, stellte sich der Mandarin auf die Zehen.
Wie erschrak aber der Lauscher als sich das Tirilieren der Nachtigall
plötzlich in ein mensch- liches Singen verwandelte.
Eine helle Mädchenstimme sang von ihrem Leid.
Oh, rette mich aus meiner Pein! Ich bin ein schönes Mägdelein. Tandaradei!
Bin eingeschlossen Tag und Nacht, Herr Drachenbart hält mich bewacht. Tandaradei!
Am Mülliberg im Schlosse Hall quält mich die Tante Fifidschall. Tandaradei!
Erschlag den Drachen, führ mich heim, dann will ich gern die Deine sein. Tandaradei!
So ein wunderliches Abenteuer hatte Tschin-Tschin sich immer erträumt:
Ein Königs- oder Fürstenkind von einem Drachen zu befreien,
einen Zauberbann zu brechen und sich einer kleinen zierlichen Frau
als Befreier und Held anbetungswürdig zu machen.
Ein nie geahnter Mut beseelte ihn.
Er eilte in das Haus zurück und befahl seiner Dienerschaft,
ihm aller Stille bei den Vorbereitungen zu helfen.
Seine Vorsicht war in der Befürchtung begründet,
sein Neffe, der bei ihm zu Besuch weilte
und den Seitenflügel seiner Residenz bewohnte,
könne von dem Plan seiner Freierfahrt erfahren.
O Okasi, so hieß der Neffe, war schlank und stark, eisernen Keulen gleich,
und diente als Offizier im kaiser- lichen Schwerter-Regiment zu Peking.
Ein hohes Maultier wurde gesattelt.
Der Mandarin putzte eigenhändig sein Schwert, zog eine goldene Rüstung an
und machte sich noch in der Nacht und ohne Begleitung auf zum Mülliberg.
Es wurde eine beschwerliche Reise.
Viel Ungemach, großes und kleines, hatte Tschin-Tschin zu erdulden.
Wilde Hunde, tückische Fasane, mächtige Schwärme von Waldvögeln
sowie große Sonnenspinnen mit ihren Weben kreuzten sein Weg und versuchten,
den geharnischten Ritter an seinem Vorhaben zu hindern.
Mut und Rüstung hatten schon erheblich gelitten,
als sich der Mandarin entschloß, umzukehren.
Auf seinem Rückzug geriet er in einen dichten Wald,
in dem ein furchtbarer Spektakel herrschte,
den rundherum die Echos der Berge wie aus brausenden Schleusen zurückwarfen.
Fast seiner Sinne beraubt erkannte Tschin-Tschin bald die Ursache.
Der ganze Wald wimmelte.
Die nördlichen Wollaffen hatten den Bibijuuten, einem Stamme
der Blauseidenmeerkätzchen, den Krieg erklärt
und zogen in unabsehbaren Massen in den Kronen der Bäume gegeneinander,
bewaffnet mit Wurfgeschossen, Steinen und Knütteln.
Um im Dickicht des Waldes einen Weg zu haben,
trabte Tschin-Tschins Reittier im Bett eines reißenden Sturzbaches,
der mit der dazugehörigen Waldlichtung die feindlichen Heere voneinander trennte.
Als die kampflustigen Affen und Meerkatzen des sonderbaren Reiters ansichtig wurden,
vergaßen sie ihren gegenseitigen Haß und schleuderten wie auf Kommando
ihre Geschosse auf den gold- flimmernden Mandarin und seinen Maulesel.
Der Maulesel wurde wild und raste im Galopp davon.
Diesem Umstand allein hatte Tschin- Tschin seine Rettung zu verdanken.
Da der Maulesel in seinem Schrecken umgekehrt war,
kam der entmutigte Freiersmann unversehens zu seinem Ziele.
Die Grenze der Provinz Kuku-khoto war überschritten
und als der Tag sich neigte,
sah Tschin-Tschin durch mächtige Fichtenstämme hindurch das Schloss „Hall“
in der Abendsonne leuchten.
Aber auch der Drache hatte ihn gesehen
und stürzte sich in den Wald, ihm entgegen.
Der dicke Mandarin hatte wohl an ein schönes Mädchen geglaubt,
aber nie so recht an einen Drachen.
Er ließ vor Schreck sein Schwert fallen, warf sich zur Erde, rang die Hände
und flehte alle chinesischen Götter um Beistand an.
Der Hagel- und Feuergott kam dem armen Tschin-Tschin zu Hilfe.
Ein furchtbarer Taifun wetterte los, zerbrach die mächtigen Fichtenstämme
wie Zündhölzer, warf sie durcheinander und erschlug so den Drachen.
Erlöst atmete Tschin-Tschin auf und war bald wieder voller Mut.
Seine Sehnsucht nach der Prinzessin Tandaradei wurde stärker denn je.
Der Mandarin tauchte sein Schwert in Drachenblut
und kletterte geräuschvoll klappernd auf das Schloß.
Hier durchstürmte er fiebernd nach dem Antlitz des schönen Mädchens die Gemächer.
„Tandaradei! Tandaradei! Dein Befreier kommt!“
Aber das Schloß blieb still und leer.
Oh, Enttäuschung.
Alle Liebesmüh, alle Herzensangst war also vergeblich gewesen…
Plötzlich fühlte er sich von hinten gestreichelt.
Hochrot vor Freude drehte er sich um und öffnete die Arme —
doch statt der schönen Tandaradei warf sich ihm die alte hässliche Tante Fifidschall
an sein pochenes Herz.
Als er sie entrüstet von sich stieß, nahm sie eine drohende Haltung ein
und sprach mit scharfer Zunge:
„Ich habe dich im Verdacht, an der Entführung meiner Nichte Tandaradei
beteiligt zu sein;
ich habe dich ferner im Verdacht, meinen Drachenbart getötet zu haben.
Zur Strafe werde ich Dich liebloses Wesen zähmen, so wie ich den Drachen gezähmt habe.“
Tschin-Tschin floh.
Aber es half nichts;
die böse Tante heftete sich dem Entsetzten an die Fersen.
Als der enttäuschte Mandarin in Begleitung der Tante daheim angekommen,
fand er in seinem Garten eine feierliche Stimmung.
Überall schaukelten bunte Laternen und erleuchtete Papierfische
zum Zeichen der Freude.
Und inmitten der Pracht stand sein Neffe O Okasi,
fest umschlungen von der zierlichen kleinen Tandaradei,
die er sich vor seinem Onkel geholt hatte.
Auch er hatte in der Nacht von seinem Lager aus
das Klagelied der Nachtigall vernommen.
Ohne zu säumen, war er aufgesprungen,
hatte sich beschwingten Fußes ohne Waffen auf den Weg gemacht
und war in knapp fünfzehn Stunden am Fuße des Mülliberges.
Den Drachen hatte er ruhig schlafen lassen,
hatte den Berg von rückwärts erklommen und war mit allen möglichen Sprungkünsten
der hohen Mauern des Schlosses Hall Herr geworden.
Ein ganzes Eisengitter aus dem morschen Gebälk eines Fensterrahmens herauszureißen,
war für den kühnen Jüngling ein leichtes gewesen.
In dem Augenblick nun
in dem die böse Tante sich umdrehte, um zu niesen,
hatte O Okasi die zierliche Prinzessin aus dem offenen Fenster
in die Freiheit gehoben.
Hierauf war er stehenden Fußes umgekehrt.
Die leichte Libellengestalt in seinen starken Armen tragend,
war er darauf, ohne zu säumen,
auf den Morgen, den Mittag und Abend Lobeshymnen singend
in die Residenz seines Oheims zurückgeeilt
und hatte alles zu einem Freudenfeste herrichten lassen.
Prinzessin Tandaradei war schön wie eine Maiennacht mit Lotosblütenstaub
und sie lauschte mit ihrem Befreier entzückt dem Geschmetter der Nachtigall,
der sie beide dieses große Glück zu verdanken hatten.
In Erinnerung dieser Ereignisse verbot Tante Fifidschall
ihrem dicken Tschin-Tschin, jemals wieder des Nachts in den Garten zu gehen,
um eine Nachtigall singen zu hören.