Tip:
Highlight text to annotate it
X
Mein Herz, ich liebe dich ganz schrecklich.
Nicht nur als wunderbaren Menschen, sondern auch als Sänger.
Einen schöneren Brief als deinen heutigen hat niemand je zuvor bekommen.
Bei deinen Worten schlägt mein Herz höher vor Liebe und Stolz.
Womit habe ich es verdient, für so einen Künstler und Menschen schreiben zu dürfen?
Deine lieben Augen sind blind dafür, dass es immer nur du warst,
der mir von Anfang an all dies gegeben hat.
Ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich.
B.
Peters Stimme hatte genau den Klang, für den Ben gern schrieb.
Und Peter fand, Bens Musik bringe seine Stimme ideal zur Geltung.
Aber natürlich stand viel mehr dahinter: die Verbindung dieser beiden Menschen
und eine ganz tiefe Liebe, die von Anfang bis Ende nie nachließ.
Wer...?
Wer kann den Lauf der Gestirne umkehren
und von vorn beginnen?
Vielleicht wäre einer ohne den anderen nicht ganz so bedeutend geworden.
Ben vergötterte Peter, er liebte seine Stimme und schrieb gern für ihn.
Und Peter gefiel es, dass Ben für ihn komponierte.
Aber wie will man dieses gewisse Etwas zwischen zwei Menschen erklären?
Sie lernten sich als junge Männer kennen.
Ben war gerade aus seiner Heimatstadt Lowestoft nach London gekommen.
Er war ein vielversprechender junger Komponist.
Peter war drei Jahre älter.
Er verfolgte bereits seine Sängerkarriere, wenn auch in eher bescheidenem Rahmen.
Das Ensemble, in dem Peter sang, führte ein Stück von Ben auf.
Dabei lernten sie sich kennen, und das war der Beginn ihrer Beziehung.
Und sie haben es nie bereut.
Sie waren sich in vielem sehr ähnlich.
Sie wirkten wie zwei nette, achtbare Schullehrer.
Sie kleideten sich sogar wie Schullehrer.
Ben wäre als Lateinlehrer durchgegangen, Peter als Sportlehrer.
Sie verkörperten einen Typ Engländer, den es heute kaum noch gibt.
Homosexualität war illegal.
Daraus erwuchs ein enormer Druck.
Sie beschlossen ganz bewusst,
es weder herauszukehren noch zu leugnen, aber der Druck war da.
Ob ihm seine Sexualität Sorgen machte?
Er machte sich über fast alles Sorgen, also vermutlich auch darüber.
Als man die Leute noch ohne viel Aufhebens ins Gefängnis steckte,
wird er sich große Sorgen gemacht haben.
Peter war sehr selbstbewusst.
Ich hatte den Eindruck, Peter war mit seiner Sexualität im Reinen.
Er hatte kein Problem damit.
Allenfalls hatten die anderen ein Problem damit.
Ich denke, das war seine Meinung.
Und deswegen konnte er Britten den Rücken stärken.
Peter war irgendwie weltgewandter.
Er sah sich, glaube ich, als derjenige in der Beziehung,
der den Kontakt zu den anderen Menschen draußen in der Welt hielt.
In gewisser Hinsicht schützte er Ben, der sich oft einsam und verloren fühlte.
Als junger Mann hatte Britten es nicht immer leicht.
In England neigt man dazu, und damals vielleicht noch mehr,
brillante Menschen wie Britten, denen alles leicht zu fallen scheint,
eher misstrauisch zu beäugen.
Als er noch am College war,
wollte einer der Professoren ihm kein Stipendium geben und sagte:
» In seinem Alter gehört es sich nicht, so brillant und klug zu schreiben;«
»das ist für ihn selbst nicht gut.«
Ich glaube, er litt sehr darunter,
dass man seine Brillanz mit Oberflächlichkeit gleichsetzte.
Die Leute sagten auch weiterhin: » Was für ein kluger junger Mann!«
Aber sie sagten es mit einem abfälligen Unterton.
Das machte ihm sehr zu schaffen.
Nachts fährt der Postzug, grenzüberschreitend,
den Scheck und die Postanweisung weiterleitend,
Briefe für den reichen und den armen Mann,
den Laden an der Ecke, das Mädchen nebenan.
Rauf geht's nach Beattock, stetig bergan:
Der Steigung zum Trotz kommt alles pünktlich an.
Britten erhielt wichtige Anregungen,
als er zu diesen großartigen Dokumentarfilmern stieß
und W.H. Auden kennen lernte.
Er fährt in Eile durch die Stille, Meile um Meile.
Vögel starr'n ihn verwundert an beim Näherkommen:
Wer hat den Wagen die Fenster genommen?
Britten und Auden lernten sich um 1935 kennen.
Mitte bis Ende der 30er Jahre war Audens Einfluss besonders groß.
Britten vertonte viele Texte von Auden in Liederzyklen wie
»On This Island« oder »Our Hunting Fathers«.
Die beiden arbeiteten eng zusammen in der Filmabteilung der britischen Post.
Britten und Pears folgten Auden 1939 nach Amerika.
Auden und Isherwood waren im Jahr zuvor weggegangen.
Eigentlich gingen sie nach Amerika, um Europa zu entfliehen,
das sie als beengend und politisch instabil empfanden.
Beide, der junge Komponist und der junge aufstrebende Tenor,
wollten die Neue Welt erkunden
und dort ihr Glück versuchen.
Beide hatten den Kriegsdienst verweigert.
Und ihr Umzug in die USA wurde kritisiert.
Natürlich hatte auch Auden zu leiden.
Im Parlament wurden Fragen laut:
Was waren das für junge Männer, die ihr Land in Notzeiten im Stich ließen?
Als Britten nach Amerika kam, gefiel es ihm dort anfangs sehr gut.
Aber schon bald hatte er genug vom »American Way of Life«.
Eine Zeit lang lebte er im selben Haus wie Auden,
aber dessen Bohemien-Leben ging ihm bald auf die Nerven.
Britten war recht bieder.
Ben und Peter waren in allem stets korrekt und gepflegt,
geistig und auch körperlich; sie badeten oft und gern.
Anscheinend legte Auden nicht so großen Wert auf Körperpflege.
Sein unkonventioneller Lebensstil ging ihnen etwas zu weit.
Britten empfand Auden als zu dominant.
Zum einen war er ein Intellektueller und sehr eloquent,
zum anderen hätte Britten gern mehr profitiert
von Audens Originalität.
Audens starke Persönlichkeit schüchterte sie etwas ein.
Sie waren zurückhaltende junge Männer. Ich weiß das Jahr nicht mehr,
aber sie waren noch sehr jung und beeinflussbar.
Dieser Lebensstil war eigentlich nichts für sie.
New York, 31. Januar 1942.
Liebster Ben,
es tut mir leid, dass ich so lange nicht geschrieben habe.
Vielleicht will ich nicht wahrhaben, dass ihr uns wirklich verlasst.
Ich muss dir wohl nicht sagen, wie sehr ich dich und Peter vermissen werde
und wie sehr ich euch beide liebe.
Es gibt noch so vieles, worüber ich mit dir reden möchte.
Ich will versuchen, wenigstens etwas davon in diesem Brief zu sagen.
Ich habe im letzten Jahr viel über dich und deine Arbeit nachgedacht.
Du weißt, ich halte dich für die größte Hoffnung der heutigen Musik.
Genau deshalb bin ich auch kritischer dir als anderen gegenüber.
Und ich glaube, ich weiß um die Gefahren,
denen du als Mensch und Künstler ausgesetzt bist,
denn sie drohen auch mir.
Gegen Ende ihrer drei Jahre in den USA
wuchs bei Britten und Pears das Heimweh.
Dieses Heimweh verstärkte sich noch, als sie im »Listener« einen Artikel lasen,
den E.M. Forster über Crabbe und »The Borough« geschrieben hatte.
Die Verserzählung »The Borough« wurde zur Grundlage von »Peter Grimes«.
Der Ort spielte dabei eine große Rolle,
die Landschaft und die Leute von Suffolk,
die Küstenszenerie.
Eine Gegend, wie Britten sie aus seiner Kindheit und Jugend kannte.
Britten war Anfang 30.
Es gab von ihm sehr schöne Lieder und einige Sachen mit Streichorchester.
Aber außer der » Sinfonia da Requiem« für großes Orchester
hatte er noch nichts Großformatiges komponiert.
Für eine Oper muss man zweieinhalb Stunden Musik schreiben.
Eine Riesenarbeit. Würde er das schaffen? Und alles wie aus einem Guss?
Peter Grimes ist ein Fischer aus Suffolk, den die Dorfgemeinschaft dafür verurteilt,
dass sein Lehrling unter mysteriösen Umständen auf See umgekommen ist.
Er bekommt eine zweite Chance, bleibt aber ein Außenseiter.
Er hat seine eigenen Träume und passt sich nicht an.
Sein Kampf um Liebe und Anerkennung ist zum Scheitern verurteilt,
und die Geschichte endet tragisch.
Welches Ziel, welche Zukunft, welchen Frieden
soll uns dein mühsam erarbeitetes Geld erkaufen?
Es wird uns ein Heim kaufen, Achtung,
Freiheit vom schmerzhaften Lächeln
über all die Klatschgeschichten.
Glaub mir, wir werden frei sein!
Er erkannte sich wieder in Peter Grimes und dessen Dilemma,
einem Dilemma, das seinem eigenen in diesen Jahren ähnelte:
ein Homosexueller, der zum ersten Mal eine feste Beziehung einging,
als Homosexualität noch verboten war; sie blieb es bis Ende der 60er Jahre.
Und er war trotz des Krieges ein Pazifist und auch dadurch ein Außenseiter.
Deswegen fühlte er mit Grimes und begriff sein Dilemma.
Die an sich provinzielle Geschichte barg für ihn eine universelle Wahrheit,
ein universelles Drama, das er weiter ausführen konnte.
Der Schauplatz: ein Fischerdorf Ende des 19. Jahrhunderts.
Das Ereignis: von großer Bedeutung für die britische Musik.
Diese Oper macht Schlagzeilen und schreibt Musikgeschichte.
Londons berühmtes Sadler's Wells Theatre wird nach dem Krieg wiedereröffnet
mit einem Werk des jungen Komponisten Benjamin Britten, seiner ersten Oper.
Einige Leute am Sadler's Wells Theatre waren strikt dagegen.
Zur Wiedereröffnung nach dem Krieg wollten sie »Aida« oder »La Bohème«.
Sie dachten: »Diese Schwuchtel, was erlaubt der sich!«
»Und Pazifist ist er auch noch!«
Aus Unterlagen der BBC wissen wir,
dass viele Dirigenten und andere Musiker dagegen waren, Britten zu engagieren.
In ihren Augen hatte er sich schändlich benommen,
als er sein Land verließ, anstatt im Krieg zu kämpfen.
Aus einem Interview mit Benjamin Britten:
Wir standen als Einzelne gegen die Masse,
wobei uns auch nicht die Ironie unserer Situation entging.
Als Kriegsdienstverweigerer waren wir allem entgangen.
Wir mussten nicht körperlich leiden,
aber natürlich standen wir unter einem enormen Druck.
Vermutlich haben wir auch aus diesem Gefühl heraus
Grimes als eine Figur voller Visionen und Konflikte angelegt,
als gequälten Idealisten, nicht als Schurken wie Crabbe.
Folgendes schrieb mein Onkel Peter an Ben über »Peter Grimes«:
März 1944.
Je mehr ich höre, desto unwichtiger finde ich sein Anderssein;
die Musik sagt nichts darüber, es drängt sich zumindest nicht auf.
Im Text darf es das dann auch nicht.
Peter Grimes ist introvertiert, ein Künstler, ein Neurotiker.
Sein Problem ist es doch letztlich, sich mitzuteilen, oder?
Was für eine Rolle! Toll!
Alles Liebe, mein Ben. Von Herzen, Peter.
Solange sich die Erde dreht, ziehen der Große Bär und die Plejaden
die Wolken menschlichen Leids zusammen.
Sie erfüllen die Nacht mit Feierlichkeit.
Wer entziffert in Sturm oder Sternenlicht
die Schrift eines freundlichen Schicksals,
während der Himmel sich dreht, um unsere Welt zu ändern?
Doch wenn das Horoskop verwirrend ist
wie das funkelnde Durcheinander eines Heringsschwarms...
Je mehr ich über diese Figur nachdenke, je öfter ich diese Rolle singe,
desto mehr sehe ich seine Unfähigkeit zur Kommunikation als Hauptproblem.
Er ist ein sehr komplizierter Mensch,
der immer nur missverstanden wird.
Mit allem, was er tut, scheitert er, auch mit seiner Kommunikation.
Er sagt immer das Falsche und eckt bei den Leuten an.
Nie sagt er: »Oh, das war falsch... Warum tue ich das? «
»Mea culpa, mea culpa«, so oder ähnlich.
Er sehnt sich nach Nähe, kann sie aber nicht zulassen.
In London war er der Renner.
Wie Fonteyn im Ballett.
Pears und Britten waren damals die absoluten Renner in London.
Alles fieberte der Premiere entgegen.
In England hatte es keine bedeutende Oper mehr gegeben
seit »Dido und Aeneas« im 1 7. Jahrhundert.
Die Premiere fand statt am Donnerstag, dem 7. Juni 1945.
An dieses Datum werde ich mich erinnern, solange ich lebe.
Ich war der allererste Lehrjunge in »Peter Grimes«, darauf bin ich sehr stolz.
Zum ersten Mal hörte ich die Geräusche, die so ein großes Publikum macht.
Hinter dem Vorhang hörte ich das Stimmengewirr der Zuschauer.
Dann wurde es plötzlich ganz still, als das Licht ausging.
Und dann ging's los. »Grimes« kommt ohne Umschweife gleich zur Sache:
Ein paar Töne, und der Vorhang geht auf.
Peter Grimes! Sprecht mir den Eid nach!
Ich schwöre bei Gott,
dass alles, was ich hier sagen werde,
die Wahrheit ist,
die reine Wahrheit und nichts als die Wahrheit.
Erzählt dem Gericht die Begebenheit in Euren eigenen Worten.
Ihr fuhrt mit Eurem Boot die Küste entlang mit dem Ziel London.
Warum tatet Ihr das?
Wir hatten einen Riesenfang gemacht, zu groß, um ihn hier zu verkaufen.
Und der Junge starb unterwegs?
Der Wind drehte sich und brachte uns vom Kurs ab.
Unser Trinkwasser wurde knapp.
Wie lange wart Ihr auf See?
Drei Tage.
Was geschah dann?
Er starb zwischen den Fischen.
Jeder im Zuschauerraum fragte sich, was jetzt wohl kommen würde:
eine echte Sensation oder eine Oper wie so viele andere?
In der ersten Pause war vielen klar: Das hier war ein Ereignis.
Welcher Hafen bietet Frieden,
fern von Flutwellen und Stürmen?
Welcher Hafen ist eine Zuflucht vor Schrecken und Tragödien?
Bei ihr gibt es keinen Streit.
Bei ihr ist alles friedlich,
ein Hafen für immer,
wo die Nacht zum Tag wird.
Sie hatten die Konservativen gegen sich.
Alle Komponisten-Kollegen waren gegen sie:
Walton, Elisabeth Lutyens, Rawsthorne usw.
Sie mochten diese - mit Verlaub - homosexuellen Künstler nicht,
die daherkamen und alle anderen rechts überholten; so sah es zumindest aus.
Welcher Hafen bietet Frieden,
fern von Flutwellen und Stürmen?
Welcher Hafen ist eine Zuflucht vor Schrecken und Tragödien?
Ihre Umarmung ist auch ein Hafen,
wo die Nacht zum Tag wird.
Am Ende der Vorstellung
senkte sich der Vorhang ganz langsam zu Brittens leisen Klängen.
Und dann passierte erst einmal nichts, absolut gar nichts.
Es dauerte bestimmt 30 Sekunden oder noch länger,
erst dann setzte der Applaus ein und hörte gar nicht wieder auf.
Alle Hauptdarsteller wurden mit Beifall überschüttet.
Aber als Ben auf die Bühne kam, brach ein regelrechter Sturm los.
Er sprang auf die Bühne, anders kann man es nicht nennen.
Und als er die Mitte der Bühne erreicht hatte,
machte er die tiefste Verbeugung, die ich je gesehen habe.
Das Publikum war völlig außer Rand und Band.
Da saßen Leute wie Vaughan Williams und William Walton.
Mir sagte das damals nichts, ich wusste noch nichts über Musik.
Heute beeindruckt es mich viel mehr als damals.
Es war ein Knaller. Seine Karriere erhielt einen immensen Schub.
Er war in aller Munde; die Publicity war ungeheuer.
Zumal es ein Erfolg war und kein Flop.
Dadurch wurde Britten berühmt.
Im »Time Magazine« hieß es am 7. Juni:
Setzt man einmal die Kritikerbrille ab, war es einfach ein großartiger Abend.
»Peter Grimes« braucht rund 200 Sänger und Instrumentalisten.
Alte Opernhasen hatten vorher 24 Stunden an der Theaterkasse campiert.
Begeisterte Musikliebhaber überschütteten Komponist und Interpreten mit Blumen,
bis die ehrwürdigen Bühnenbretter unter einem Blütenteppich verschwanden.
Der Adel präsentierte mehr Pelzmäntel, Abendanzüge und Diademe,
als man in ganz London seit Kriegsbeginn gesehen hatte.
Die Uraufführung war ein triumphaler Erfolg,
eine legendäre Premiere, eines der größten Musikereignisse nach dem Krieg.
Es war ein Wendepunkt, nicht nur für Brittens Karriere,
sondern für das gesamte britische Musiktheater.
»Peter Grimes« schlug ohne Zweifel wie eine Bombe ein,
und die Nachwirkungen sind bis heute spürbar.
Doch Brittens Weg zu internationalem Ruhm
war keine gerade Linie von A nach B.
Nach »Grimes« gab es noch einige recht steinige Abschnitte,
und Auden spricht dies in seinem Brief auch an.
Wohin du auch gehst, immer werden Leute um dich sein,
die dich bewundern, dir alles abnehmen und alles gut finden, was du tust.
Das birgt die ständige Versuchung, es dir zu leicht zu machen,
dir ein warmes Nest aus Zuneigung zu bauen.
Doch wenn dir das gelungen ist, wirst du es als erdrückend empfinden.
Dieser Brief war in vielem sehr weitsichtig.
Britten wurde unbestritten ein echtes Genie.
Aber mit einigen seiner Bemerkungen sollte Auden Recht behalten.
In der Nacht des 14. November fielen 500 Tonnen Bomben auf Coventry.
Von den 9 75 Gebäuden in der Innenstadt von Coventry standen nur noch etwa 31
nach dieser Schreckensnacht, und auch die Kathedrale lag in Trümmern.
Am nächsten Tag sah man viele Menschen in der Innenstadt von Coventry herumlaufen,
die um ihre geliebte Kathedrale weinten.
Als er Anfang der 60er Jahre den Auftrag erhielt,
ein Stück zur Wiedereinweihung der Kathedrale zu schreiben,
war er eigentlich der Einzige, der dafür infrage kam.
Bis 1950 war Britten eine feste Größe im Musikleben geworden:
Er unterhielt eine eigene Operntruppe und ein eigenes Musikfestival.
Im Vorfeld der Krönung bat man Britten, eine Oper zu schreiben,
um dieses Ereignis auch im Royal Opera House zu feiern.
Er genoss Anerkennung in musikalischer wie gesellschaftlicher Hinsicht.
Man ernannte ihn zum Companion of Honour, er bekam den Order of Merit,
er wurde Ehrenbürger seiner Heimatstadt Lowestoft und von Aldeburgh.
Anfang der 60er lag es also nahe, Britten damit zu beauftragen,
ein großes Werk zur Einweihung von Coventry Cathedral zu komponieren.
Mit den Jahren wurde Britten immer mehr eine Figur des öffentlichen Lebens.
Er umgab sich mit einem großen Kreis von Leuten.
Politik interessierte ihn nicht,
aber es gefiel ihm, Einfluss zu haben.
Wenn du dein gesamtes Potenzial ausschöpfen willst,
wirst du wohl leiden und anderen Schmerz zufügen müssen,
auf eine Art und Weise, die du dir jetzt noch nicht vorstellen kannst.
Du wirst gegen alle deine Werte und Überzeugungen verstoßen
und du wirst über dich etwas sagen können, wozu bislang nie Veranlassung bestand:
Mein Gott, ich bin ein echtes Schwein.
Sie scharten ihre Anhänger in einer Art Clique um sich,
wofür sie heftig kritisiert wurden.
Aber Ben brauchte das.
Er brauchte das Gefühl von Sicherheit, wie in einer liebevollen Umarmung.
Er hasste es, wenn man seine Musik kritisierte.
Meistens hatte er absolut Recht mit dieser Abneigung,
aber Kritik traf ihn härter als andere Musiker.
Weißt du, mein lieber Bengy,
du bist ständig versucht, es dir zu leicht zu machen,
dir ein warmes Nest aus Zuneigung zu bauen,
das du, wenn du es erreicht hast, als erdrückend empfinden wirst,
indem du den begabten, lieben Jungen spielst.
Auden riet Bengy, endlich erwachsen zu werden.
Er fand, Bengy führe ein sehr spießiges Leben,
umgeben von Menschen, die ihn anbeteten und ihm nie zu widersprechen wagten.
Er müsse auch einmal für seine Kunst leiden,
um ihr Tiefe zu verleihen, und damit hatte er wohl Recht.
Über Ben wird oft gesagt,
er habe sich schäbig benommen zu Leuten, die ihm nicht mehr nützen konnten.
Er sei über Leichen gegangen, und ich galt als eine dieser Leichen.
Nach meiner Scheidung wandte er sich von mir ab und sprach nicht mehr mit mir.
Erst später wieder, aber jahrelang nicht; ich war für ihn gestorben.
Ich wurde zur Unperson, als ich Kritiker wurde,
denn er hasste Musikkritiker.
Sie waren nicht immer nett zu ihm gewesen, aber ich finde, er übertrieb etwas.
Im Red House und anderen Häusern in Aldeburgh gab es keine Zeitungen,
weil sie Ben zu sehr aufregten.
An guten Tagen konnte er reizend sein.
Aber seine Musik bedeutete ihm alles; sie stand an erster Stelle.
Darum ließ er seine Protegés sofort wieder fallen,
wenn sie sich zu sehr in seine Arbeit und seine Projekte einmischten.
Hände weg, ohne Ausnahme.
Der Auftrag zum » War Requiem« bedeutete ihm als Pazifisten besonders viel.
Es war für ihn die willkommene Gelegenheit zu sagen,
was er über den Krieg und seine Sinnlosigkeit dachte.
Er wollte alle Kriegsparteien repräsentieren und engagierte darum
einen britischen Tenor, eine russische Sopranistin und einen deutschen Bariton.
Ben schrieb sehr viel für Peter, aber das war in ganz besonderem Maße »sein« Stück.
Er vertrat eine Seite dieses ungewöhnlichen Dreiecks ehemaliger Kriegsgegner,
und er war intensiv an der Entstehung des Stücks beteiligt.
Zudem durfte er die Owen-Gedichte singen, was an sich schon etwas Besonderes war.
Mir schien, als sei ich der Schlacht entkommen
in einen tiefen, dunklen Tunnel...
Ben liebte Peters Stimme.
Er schrieb nie für einen anderen Tenor, daran war gar nicht zu denken.
Eines fand ich außergewöhnlich.
Wenn sie gemeinsam auftraten, war das eine Art musikalischer Symbiose.
Es war beinahe unheimlich: Wenn Peter Luft holte, bewegte Ben die Finger.
...vor langer Zeit in den Granit getrieben,
den Titanenkriege geformt haben.
Ich weiß nicht mehr, ob es Rostropowitsch war oder Wischnewskaja,
aber einer von beiden meinte, Peter sei das Instrument seiner Seele.
Wie Peter Pears das Agnus Dei sang, war einfach unglaublich.
Ich bin ja selbst Sängerin, aber ich habe keine Ahnung,
wie er so überirdisch schön und so inspiriert singen konnte.
Die letzte Phrase, »Dona nobis pacem«, steigt geradewegs zum Himmel empor.
Ich habe ihm gesagt: »Das werde ich hören, wenn ich sterbe.«
Doch die mit größerer Liebe lieben,
geben ihr Leben dahin.
Sie hassen nicht.
Das » War Requiem« ist ein repräsentatives Werk.
Viele Laienchöre aus der Region wirkten dabei mit, es war eine riesige Besetzung.
Britten verwebt Gedichte von Wilfred Owen mit der lateinischen Totenmesse,
und drei Solisten stehen für die drei wichtigsten Kriegsmächte:
Deutschland, England - aus unserer Sicht - und Russland.
Aus einem Brief Brittens an John Lowe, den Organisator des Coventry Festival,
11. Juli 1961:
Wischnewskaja scheint die ideale Sopranistin für das Requiem zu sein;
ich habe unverbindlich angefragt, und sie würde es sehr gern machen.
Ich sollte an der Uraufführung in Coventry teilnehmen.
Ich hatte meine Partie einstudiert und war perfekt vorbereitet.
Um diese Zeit sollte ich auch an Covent Garden »Aida« singen;
insgesamt sechs Vorstellungen.
Ich sollte gleich im Anschluss an »Aida« nach Coventry fahren.
Ein Brief von S. Chaskin, sowjetisches Ministerium für Kultur,
an John Lowe, Festivalmanager,
29. November 1961:
Sehr geehrter Mr. Lowe, ich muss Ihnen leider mitteilen,
dass Galina Wischnewskaja nicht am Festival in Coventry teilnehmen kann.
Mit freundlichem Gruß.
Schon bevor ich nach England fuhr, gab es Schwierigkeiten.
Die Kulturministerin Furtseva verbot mir, im » War Requiem« mitzusingen.
Ich sagte: » Ich bin doch schon in England. Warum sollte ich es nicht machen? «
Sie antwortete: » Sie sind eine sowjetische Künstlerin.«
» Sie können nicht neben einem Deutschen auf der Bühne stehen!«
»Unsere Regierung ist dagegen. Sie, eine sowjetische Frau...«
»Der Engländer ist halb so schlimm, aber dieser Fischer-Dieskau!«
»Ein Kriegsrequiem! Und diese Besetzung: Engländer, Deutsche, Russen...«
» Wir sind dagegen! Politisch gesehen wäre das ein falscher Schritt.«
Aus einem Brief von Benjamin Britten an E.M. Forster,
Ostern 1962:
Die Sowjets lassen meine russische Wunschsopranistin nicht singen.
Eine Kathedrale und die Aussöhnung mit Westdeutschland -
das war einfach zu viel für sie.
Ich war sehr aufgebracht darüber, dass man Galina verboten hatte, mitzusingen.
Und ich ging zum Kulturministerium, um mich für sie einzusetzen.
Dort wurde ich von einem recht netten Herrn empfangen.
Ich fragte: » Warum erlaubt man ihr nicht, in Brittens Werk zu singen? «
Der Mann wurde sehr böse: » Wir wissen, was zu tun ist! Auf Wiedersehen.«
Es hätte einen Rieseneklat gegeben, denn die Königin sollte ja anwesend sein.
Darum musste jetzt eine andere Sängerin rasch die Partie einstudieren,
wohlgemerkt eine sehr schwierige Partie.
Zehn Tage vor der Aufführung hörte ich zum ersten Mal vom » War Requiem«.
Ich studierte es gründlich,
und dann besuchte ich Benjamin Britten in seiner Wohnung in St. John's Wood.
Er ging es mit mir durch und sagte: »Ja, sehr gut. Weiter so.«
Das war's. Ich sah ihn erst bei den Proben in Coventry wieder.
Das größte Problem, die größte Sorge bei dem Projekt war,
dass man Wischnewskaja in letzter Minute die Mitwirkung untersagt hatte.
Und die arme Heather Harper hatte kaum Zeit gehabt, es zu lernen.
In ihrem schwarzen Kleidchen wirkte sie rührend unschuldig.
Natürlich war sie nervös, aber sie meisterte es souverän.
Es war unglaublich bewegend.
Es stellte jedes andere Konzert, auch jede Uraufführung in den Schatten.
Es war unendlich anrührend.
Mir gefiel nicht alles.
Manches fand ich absolut großartig.
Aber der Schluss sagte mir nichts, diese Sache im tiefen Tunnel,
wenn der Soldat dem Mann begegnet, den er getötet hat.
Das gefiel mir nicht, ich fand es etwas rührselig.
Aber mir kamen die Tränen beim Lacrimosa.
Das ist ein fabelhaftes Stück.
Das Lacrimosa, ja...
Dieser Satz liegt mir am besten, da kann ich den besten Eindruck machen,
und wenn ich es singe, bin ich selbst immer sehr gerührt.
Denn zwischen den einzelnen Abschnitten des Lacrimosa
singt der Tenor »Bringt ihn in die Sonne«, und das ist unglaublich bewegend.
Bringt ihn in die Sonne - ganz sanft...
...einst weckte ihn ihre Berührung
und flüsterte zu Hause von unbestellten Feldern.
Sie weckte ihn auch in Frankreich,
bis zum heutigen Morgen mit seinem Schnee.
Und wenn ihn irgend etwas wecken kann,
so wird die gute alte Sonne es wissen.
Am Schluss waren alle erschüttert,
wie nur Britten einen erschüttern kann.
Er verlangt, dass man sein Innerstes offen legt, so wie auch er es tut.
Ich weiß noch: Als alles vorbei war,
lagen viele von uns auf den Knien und weinten,
und wir blieben eine ganze Weile so.
Am Schluss herrschte Totenstille, man hörte nur das Schluchzen.
Die ganze erste Reihe weinte, alle weinten.
Ich glaube, niemand, nicht einmal Britten, hatte mit dieser Wirkung gerechnet.
Nicht nur die Aufführung selbst hatte enormen Nachhall bei Presse und Publikum,
sondern auch die Decca-Einspielung in der Originalbesetzung,
inklusive Wischnewskaja, die in Coventry nicht hatte dabei sein können;
aber sie kam nach England, um das Stück mit Britten für Decca aufzunehmen.
Diese Aufnahme ist legendär.
Vermutlich wurde keine andere klassische Schallplatte so oft verkauft,
abgesehen von den Platten der »Drei Tenöre«.
Diese dicke LP-Box verkaufte sich in wenigen Monaten massenhaft.
Er traf zum richtigen Zeitpunkt den Nerv der Öffentlichkeit.
Onkel Ben war auch ein guter Kaufmann. Das darf man nicht vergessen.
Er hatte Geschäftssinn; er sorgte dafür, dass seine Musik gespielt wurde.
Er wusste, was er wann zu schreiben hatte, damit es beim Publikum ankam.
Das war kein Zufall, sondern Absicht.
Viele dachten, was so viel Erfolg hat,
kann keinen musikalischen Wert haben.
Andere waren schlichtweg neidisch.
Strawinsky äußerte sich sehr bissig über das Stück.
Ich weiß nicht, wie gut er es überhaupt kannte.
Aber dass es so ein großer Erfolg wurde,
hieß für Strawinsky, dass es keinen Wert haben konnte.
Und viele andere waren der gleichen Meinung.
Britten war in den 60ern eine feste Größe geworden.
Das Festival feierte einen Erfolg nach dem anderen.
Er hatte mit stetig wachsendem Selbstvertrauen komponiert.
Anfang der 70er hatte er das Gefühl, und das wohl auch zu Recht,
dass sich ein gewisser Gewöhnungseffekt einstellte.
Brittens Musik kam ein wenig aus der Mode
in den letzten acht oder zehn Jahren seines Lebens.
Das war ihm schmerzlich bewusst. Er fühlte sich wie auf dem Abstellgleis.
Er glaubte, niemand interessiere sich mehr für seine Musik.
»Tod in Venedig« ist vielleicht Brittens persönlichstes Werk überhaupt.
Es handelt von seiner inneren Not, seiner Seelenqual.
Es ist die Summe seiner jahrelangen Beschäftigung mit Themen wie Unschuld,
Verrat und all diesen Dingen.
»Tod in Venedig« ist die Quintessenz von Brittens Opernschaffen.
Fast wie ein letztes Wort; er zog damit einen Schlussstrich.
Britten spürte, dass die Popularität, die er in den 60ern genossen hatte,
und das Ansehen, das er erreicht hatte, zu schwinden begannen.
Interessanterweise griff er gerade jetzt zu dieser Erzählung von Thomas Mann,
die von einem arrivierten, bedeutenden Literaten handelt,
der im Alter eine Lebens- und Schaffenskrise durchmacht.
Darum halte ich »Tod in Venedig« für das am stärksten autobiographische Werk,
das Britten jemals komponiert hat: Es handelt von ihm selbst.
Und es ist bemerkenswert, dass sein Lebensgefährte der letzten 30 Jahre
in dieser Oper in gewisser Weise ihn selbst spielen sollte.
»Tod in Venedig« zeigt zunächst Aschenbach, den Schriftsteller.
Die Inspiration hat ihn verlassen: Er kann nicht schreiben, sich nicht konzentrieren,
er fühlt, wie sein Leben verrinnt, und ist verzweifelt.
Aschenbach hat sein Schicksal nicht selbst in der Hand.
Die ganze Oper hindurch treibt er von einer Begegnung zur anderen.
Und nach der Begegnung mit dem Jungen ist er wie im Rausch.
Zunächst dient er ihm als Inspiration, als Thema für seine Arbeit.
Doch dann erkennt er mit Schrecken, dass er sich in dieses Kind verliebt hat.
Am Ende fällt er einer Typhusepidemie zum Opfer und stirbt am Strand,
während das verbotene Objekt seiner Begierde mit Freunden spielt.
Die Geschichte ist zutiefst traumatisch.
Wovon »Tod in Venedig« handelt?
Von einem alternden Dichter,
der sich noch einmal in die Jugend verliebt,
in die Jugend und ihre Schönheiten; das Ganze ist sehr wehmütig.
»Tod in Venedig« handelt von einem einsamen Mann mit homoerotischen Neigungen.
Er vergöttert die Schönheit.
Und dabei geht es ihm nicht unbedingt um Sexualität.
Für ihn war es an der Zeit, sich einmal in eigener Sache zu äußern.
Anscheinend stimmte Peter Pears darin mit ihm überein.
Ihre Homosexualität war bekannt.
Aber es hatte Gesetzesänderungen gegeben, und bestimmt waren sie erleichtert.
Ein spektakuläres Coming-out wäre nichts für Britten gewesen.
Britten an Walter Hussey, 6. Januar 19 71:
Ich musste klar Schiff machen,
um ein neues Stück für Peter zu schreiben, das nicht länger warten kann.
Peter wird wie wir alle nicht jünger,
vielleicht bleiben ihm nicht mehr viele Jahre zum Singen.
Und dieses Stück - später mehr davon - kann nur er der Welt vorstellen.
Vielleicht wollte Ben »Tod in Venedig« vor allem deshalb schreiben,
weil es eine wunderbare Rolle für Peter war - als alter Mann.
Er hatte viele junge Rollen gesungen, aber hier war er ein alter, reifer Mann.
Es war wohl das erste Mal,
dass sie sich so klar und deutlich zu ihrer Beziehung bekannten.
Er hätte dieses Thema kaum behandeln können,
bevor die Gesetze Ende der 60er liberalisiert wurden.
Seine Beziehung zu Pears bestand seit Ende der 30er
und war bereits in den 50ern unangenehm aufgefallen;
die beiden waren sogar einmal von der Polizei verhört worden.
Einmal wurde er ins Innenministerium bestellt - war das 1953?
Nach dem Fall Montagu wurden viele Leute verhört.
Ben war ziemlich erschüttert,
denn er war ein Anhänger der Monarchie, er liebte Titel und das Königshaus,
und er fand den Gedanken unerträglich, in diesen Kreisen in Misskredit zu geraten.
Ben hatte so eine Art, sich nichts anmerken zu lassen.
Einmal sagte er über ein homosexuelles Paar in unserem Freundeskreis:
»Komische Leute, findest du nicht? « Und ich dachte nur: »Aha.«
Heute denken alle immer nur an Sex ; Ben tat das, glaube ich, gar nicht.
Ich glaube nicht, dass das Thema in seinem Alltag eine Rolle spielte.
Er dachte nicht: »Mein Gott, ich bin homosexuell. Wie soll ich mich geben? «
Dieser Gedanke kam nie auf. Man sprach nicht darüber.
Wie so vieles in England:
Man spricht in Gesellschaft einfach nicht darüber.
Ich glaube, er war prüde.
Und ich glaube, er machte sich die ganze Zeit Sorgen.
Keine Ahnung, warum sich Ben zu Jungs hingezogen fühlte.
So etwas liegt einem im Wesen, oder?
Andere haben ein Faible für Mädchen mit großen Brüsten oder großen Füßen.
Ben war eben nur ein Mensch, und er mochte nun einmal kleine Jungs.
Ich kann das nachvollziehen: Kleine Mädchen mag ich auch nicht.
Aber kleine Jungs sind niedlich, und wenn ich diese Neigung hätte,
würde ich es machen wie Ben, sie zum Tee einladen,
ihnen einen schönen Nachmittag machen und den lieben Onkel spielen.
Jugend, Schönheit und Unschuld inspirierten ihn offensichtlich.
Aber er musste seine Vorliebe nicht ausleben,
außer in seiner Fantasie und in seiner Musik.
Ich glaube, Pears bewies in dieser Hinsicht ungeheure Stärke:
Er war für Ben ein Fels in der Brandung.
Tugend und Schönheit resultieren aus dem vollkommenen Gleichgewicht
von Ordnung und Chaos,
Bohemien-Leben und bürgerlicher Konvention.
Bohemienhaftes Chaos allein führt zu einem Durcheinander schöner Fragmente.
Bürgerlichkeit allein führt zu großen, gefühllosen Kadavern.
Für Mittelklasse-Engländer wie uns beide ist Letzteres die große Gefahr.
Deine Vorliebe für schmächtige Jugendliche,
geschlechtslos und unschuldig, ist dafür ein deutliches Zeichen.
Dass du dem Chaos sein Recht verweigerst,
führt zu deinen Krankheitsattacken.
Will sagen: Krankheit ist dein Ersatz für ein unkonventionelles Leben.
In »Tod in Venedig« stellt er sich seinen Dämonen.
Es geht wieder um Schönheit und Tugend, Dionysos und Apoll,
und um die Abgründe, von denen Auden 1942 in seinem Brief sprach.
Britten beschloss am Ende seiner Laufbahn,
zumindest am Ende seines Opernschaffens, sich all dem zu stellen.
Es gab deutliche Parallelen zu seinem eigenen Leben.
Es ist ein sehr stark autobiographisches Stück.
War es ein Fehler, hierher zu kommen?
Was erwartet mich hier?
Doch dort ist das Meer
und zum Greifen nah die Serenissima,
obwohl der Himmel noch grau ist
und die Luft drückend,
ein Hauch von Schirokko.
Wie ich den Klang der langen Wellen liebe,
wie sie rhythmisch an Land schlagen.
Bens Krankheit begann ganz allmählich.
Es gab keinen bestimmten Vorfall, der alle in Aufruhr versetzt hätte.
Es wurde einfach immer schlimmer, Qual und Verzweiflung wuchsen ständig.
Während der gesamten Arbeit an »Tod in Venedig« war er krank.
Schließlich wurde es unübersehbar, niemand konnte es mehr leugnen.
Es bestand die Gefahr eines schweren Herzversagens,
das ihn völlig außer Gefecht setzen würde.
Er war sein Leben lang immer wieder ernstlich krank gewesen.
Oft hieß es in der Familie: Ben ist schrecklich krank.
Wird er je wieder dirigieren? Er kann den rechten Arm nicht mehr bewegen usw.
Alles nur, weil er sich so antrieb; er war ein Getriebener.
Er wollte seine Talente nicht brachliegen lassen.
Er arbeitete weiter an »Tod in Venedig«, er wollte es unbedingt vollenden.
Er hätte es bleiben lassen sollen.
Er übernahm sich.
Vielleicht ahnte er, dass es sein letztes großes Werk sein würde.
Er wusste, dass eine Herzoperation unumgänglich war.
Und vielleicht ahnte er, dass er nicht wieder genesen würde.
So vergehen die Stunden;
und während sie durch den engen Hals der Sanduhr rieseln,
dabei den Tod vom Leben scheidend,
sehe ich sie verrinnen
wie einst den Sandstrahl
im Stundenglas meines Vaters.
Er hatte Angst vor der Operation.
Man geht nicht einfach so zu einer Herzoperation ins Krankenhaus.
Man kann nie wissen, wie es ausgehen wird.
Immerhin ist das alles schon über 20 Jahre her.
Er war deswegen sehr beunruhigt und machte sich Sorgen.
Nach der Operation war zunächst vieles offen.
Nach ein paar Tagen zeigte sich dann,
dass das zentrale Nervensystem geschädigt war.
Der rechte Arm war nicht gelähmt,
aber die Feinmotorik versagte.
Das war ein schwerer Schlag für ihn.
Er konnte seine Hand nicht mehr kontrollieren.
Das ist natürlich notwendig, wenn man ein Instrument spielen will.
In geringem Maß war die Hand brauchbar, aber nicht mehr zum Musizieren.
Er war am Boden zerstört.
Als ich ihn einmal besuchte, war er ganz vergnügt.
Trotz der Lähmung in der Hand hatte er sich ans Klavier gesetzt,
und plötzlich funktionierte die Hand wieder ein bisschen.
Leider nur vorübergehend, aber an dem Tag war er vergnügt.
Peter war viel auf Konzertreisen.
Sicherlich hatte er deswegen in Bens letzten Jahren ein schlechtes Gewissen.
Ihre Beziehung wurde...
Sie war nicht mehr ausgewogen wie ihr ganzes Berufsleben hindurch.
Ben wurde emotional, körperlich und im Alltag stärker von Peter abhängig.
Er wollte ihn mit fortschreitender Krankheit immer öfter bei sich haben.
Wenn Peter weg war, fehlte er ihm sehr.
Peter war viel unterwegs, als Ben krank war.
Peter wirkte wie von einer ergebenen, unendlichen Traurigkeit erfüllt.
Geheimnisvolle Gondel!
Du stammst aus einer anderen Welt,
einer legendären Welt jenseits der Zeit,
in der düstere, gesetzlose Botengänge dich nachts übers Wasser führen.
Wie schwarz solch eine Gondel ist - schwarz wie ein Sarg:
ein Abbild des Todes und der allerletzten Reise.
Ja, er hat mich sicher übergesetzt,
aber er hätte auch für mein Ende sorgen, mich über den Styx rudern können.
Und ich wäre im Nichts verschwunden wie ein Echo,
ein Echo, das über der Lagune verklingt.
Als es zu Ende ging, in den letzten Wochen, in denen er bettlägerig war,
redeten wir auch darüber, dass er sterben würde, und er fragte mich:
» Wie wird das sein? Werde ich Schmerzen haben? «
» Was geschieht, wenn ich sterbe? «
Ich sagte: »Nichts Besonderes. Es ist wie Einschlafen.«
»Du wirst sehen: Der alte Wystan wartet da oben schon auf dich.«
Da lachte er, und damit war der Fall erledigt.
Er wollte nur sicher sein, dass alles gut werden würde.
Und ich sagte zu ihm:
»Keine Angst. Peter und ich werden bei dir sein, es wird nicht schlimm.«
Das tröstete ihn.
Ich glaube, Ben hatte eigentlich keine Angst vorm Sterben.
Gegen Ende sah er dem Tod gelassen entgegen.
Ich weiß nicht, ob ihm der Gedanke wirklich behagte,
aber wie immer wusste er, wo es langgehen würde.
Selbst auf dem Weg vom Leben zum Tod wusste er, wo es langgehen würde.
Wir hatten eine Nachtschwester im Haus.
An diesem Tag weckte sie mich, denn es schien so weit zu sein.
Peter stand auf.
Peter war bei ihm und hielt ihn in den Armen, als er starb.
Am Ende war es doch ein friedlicher Tod.
Aber in den letzten drei, vier Wochen hatte er sich sehr gequält.
Alle wussten, dass es zu Ende ging.
Es war gut, dass er endlich erlöst war.
Im November 19 7 4 war Peter Pears in New York
und gab sein Debüt an der Metropolitan Opera.
Er sang den Aschenbach in Brittens letzter Oper »Tod in Venedig«.
Im selben Monat schrieb Britten ihm diesen Brief:
Mein Herz - nicht die beste Anrede, aber ich weiß kein anderes Wort.
Ich muss dir einfach schreiben, was ich am Telefon nicht sagen könnte,
ohne dass mir diese albernen Tränen kämen.
Ich liebe dich ganz schrecklich, als wunderbaren Menschen und als Sänger.
Im Radio hörte ich eben wieder einmal » Winter Words«,
und für mich bist du wirklich der größte Künstler aller Zeiten.
Jede Nuance so fein, nie überzeichnet,
diese Worte, so traurig und weise,
wie geschaffen für dich und den himmlischen Klang deiner Stimme,
voll, aber immer dem Text und der Musik gemäß abgetönt.
Kaum zu fassen: Gerade ich darf für so einen Künstler und Menschen schreiben.
Vor den »Folk Songs« musste ich abschalten,
mehr hätte ich nicht ertragen nach » Wie lange, wie lange«...
Wie lange? Nur noch bis zum 20. Dezember.
Das halte ich gerade noch aus.
Aber ich liebe dich, ich liebe dich, ich liebe dich.
B.
Von meinem Onkel Peter an Ben, New York, November 19 7 4:
Geliebter Schatz,
einen schöneren Brief als deinen heutigen hat niemand je zuvor bekommen.
Bei deinen Worten schlägt mein Herz höher vor Liebe und Stolz,
und ich liebe dich für jedes einzelne Wort, das du schreibst.
Aber du weißt, dass Liebe blind ist,
und deine lieben Augen sind blind dafür, dass es immer nur du warst,
der mir von Anfang an all dies gegeben hat,
von Grimes bis hin zu diesem großartigen Aschenbach.
Ich bin hier als dein Sprachrohr, und ich gehe in deiner Musik auf.
Ich kann dir und dem Schicksal gar nicht genug danken
für das himmlische Glück, das wir 35 Jahre lang miteinander erleben durften.
Mein Schatz, ich liebe dich. Peter.