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Das Kambodscha meines Vaters
war für mich lange Zeit ein Land aus Pflanzen,
tropisches Grün in tropischer Hitze
mit dem drückenden Duft nasser Erde.
Ich kannte das Land nur aus den Gewächshäusern im Botanischen Garten
denn nur hier sprach mein Vater von seiner Heimat.
Er sagte jedoch nicht viel,
nur dass es diese oder jene Pflanze zu Hause auch gab.
Er erzählte nichts über seine Familie,
seine Brüder,
seine Schulzeit oder sein Dorf,
nur diese geflüsterten Erklärungen zu einzelnen Pflanzen
und dann wieder lange nichts.
Für mich passte es perfekt zusammen,
das Schweigen der Pflanzen
und das Schweigen meines Vaters.
Doch was war das für ein Schweigen?
Ein hilfloses?
Ein schützendes?
Oder ein ignorierendes Schweigen?
Ohne Worte gewinnt jeder Blick,
jedes Stirnrunzeln,
Abwinken oder Lächeln an Bedeutung.
Wie kann nicht Gesagtes einen Menschen trotzdem prägen?
Wie kann sich eine nicht gelebte Kultur trotzdem weitergeben?
Am Ende seines Lebens
bittet er mich, seine Asche nach Kambodscha zu bringen.
Zurück in seine Heimat, die er 19-jährig für immer verlassen hatte.
Zurück nach Hause.
Er hatte mindestens zwei Leben gelebt:
eins als kambodschanisches Familienmitglied, das im Exil
verlorengegangen war,
und eins als jemand, der versuchte, sich an eine fremde Kultur anzupassen,
die der DDR.
Er hatte studiert, promoviert,
geheiratet, Kinder bekommen.
Er hatte als Entwicklungsingenieur in verschiedenen sozialistischen Betrieben
gearbeitet und doch war er seltsam allein geblieben.
In einer Beurteilung über ihn heißt es: Kollege Dr. Kem besitzt ein
ausgezeichnetes Fachwissen. Seine Aufgaben erfüllt er in hohem Maße
selbstständig und verantwortungsbewusst.
Die Einstellung des Kollektivs zum Kollegen Dr. Kem war mit
Widersprüchen verbunden.
Kollege Kem hat jedoch versucht, die entstehenden Spannungen zu mindern.
In der Kontaktfreudigkeit ist Kollege Kem noch zurückhaltend. Er beteiligte
sich am Brigadeleben ohne hervortreten.
Gesellschaftspolitisch ist Kollege Kem noch nicht in Erscheinung getreten.
Die Familienmitglieder in Kambodscha sind froh darüber,
dass mein Vater in seinem Heimatdorf begraben werden kann.
Sie sagen, dass die Toten auf dem Klostergelände weiterleben
als gute Geister.
Ich sehe meinen Vater vor mir, sitzend und rauchend
und den Blick in die Ferne getaucht. Zufrieden.
Und vielleicht beobachtet er den Wuchs eines Astes
oder den Nestbau eines Vogels oder es fällt ihm auf,
dass sich die Farben zweier Blumen gleichen:
eine in seiner Heimat in Kambodscha
und eine hier bei mir
in dem Land seines Lebens.
Und vielleicht sagt er diesmal zu Hause
und meint das hier.