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Also zurück nach Delft, und am nächsten Morgen gingen wir, die Altstadt zu erkunden.
Das schöne daran, wenn alles so spät anfängt, ist, dass man so tun kann, als wäre man in aller Herrgottsfrühe aufgestanden,
besonders wenn man, wie wir, außerhalb der Saison ankommt.
Die Stadtgeschichte reicht bis ins 11. Jh., aber vieles, was man sieht, ist jünger.
Am 12. Oktober 1654 kontrollierte Cornelius Soetens den Bestand des Pulverturms und verursachte eine Explosion.
30 Tonnen Schießpulver explodierten, vernichteten ein Drittel der Stadt,
töteten viele Menschen — Hunderte, laut Historikern — und verletzten noch mehr.
Die Alte Kirche, mit dessen Bau im 13. Jh. begonnen wurde, überstand bis auf die Fenster die Detonation,
aber der Grund, warum der Turm so schief ist, ist einfach, dass der Boden zu weich ist.
Hier liegt einer der berühmtesten Einwohner Delfts begraben:
Jan Vermeer, für sein Portrait eines unbekannten Mädchens mit Ohrring bekannt.
Der Turm wird „Alte Johannes“ genannt, oder auf niederländisch: „De Oude Jan“.
Oder, wenn man es französisch mag: „Le vieux Jean“.
Das wäre also Delfts französisches Viertel,
das sich um die Ecke bis zum Café du Centre reicht.
Die Neue Kirche ist nicht viel neuer, aber der Bau dauert 100 Jahre.
1584 wurde Wilhelm von Nassau-Dillenburg in Delft ermordet,
aber da sich die Grabstätte der Familie in Feindeshand befand, wurde er hier begraben.
Es ist nun die traditionelle Grabstätte der königlichen Familie.
Die Neue Kirche steht an einem Ende des Marktplatzes,
und als wir da waren, war zufällig Wochenmarkt.
Ich muss sagen, dass mich niederländische Märkte an die britischen der 80er Jahre erinnern:
zwar bekommt man hier Produkte aus der Region,
aber auch viele billige Modeartikel.
Am anderen Ende steht das ursprünglich im 15. Jahrhundert gebaute Rathaus.
Es musste in der 1600er Jahren nach einem Brand neu gebaut werden — davon hat Delft auch viele gehabt.
Hinter dem Rathaus steht die alte Stadtwaage.
Delft bekam 1246 sein Stadtrecht, und damit auch das Recht, die eigene Waage zu betreiben.
Mittelalterliche Städte wie diese sind schön, es sei denn, man muss Waren in die Innenstadt liefern,
oder feststellt, dass man ohne etwas modernes im Bild zu haben nicht filmen kann,
aber Delft ist attraktiv genug, um das zweitbeliebteste touristische Ziel nach Amsterdam zu sein.
An seinem Höhepunkt war Delft die drittgrößte Stadt der Niederlande
und wurde zum kulturellen und wissenschaftlichen Mittelpunkt des Landes.
Es ist besonders für sein Pozellan bekannt.
Im 17. Jh. versuchten niederländische Hersteller die Kunst des chinesischen Porzellans aus Nanjing nachzumachen:
Besonders erfolgreich waren die Delfter Künstler.
Es hat sich nicht lange bewährt. Ab 1672 ging es mit der Wirtschaft bergab,
Delft verlor Geschäfte an Rotterdam und Den Haag,
und Delfter Porzellan konnte sich gegen die Massenproduktion in England nicht behaupten.
Heute geht es dem modernen Delft etwas besser,
doch die Bevölkerung bleibt bei knapp unter 100.000 stehen,
nachdem sie sich im 20. Jh. verdreifacht hatte.
Aber es war Zeit, uns wieder auf die Reise zu machen, und zwar nach Süden.
Wegen eines kleinen Fehlers befanden wir uns auf die Autobahn Richtung Rotterdam,
eine Stadt, die wir nicht besuchen wollten,
aber wir sahen ganz flüchtig einen Teil des Hafens Rotterdam, einen der größten Häfen der Welt.
Zwischen 1962 und 1986 war er sogar der größte überhaupt.
Er erstreckt sich von der Nordsee bis nach Rotterdam,
eine Länge von 40km mit einer Fläche von 105km².
Wir fanden dann die richtige Straße wieder und fuhren nach dem wirklich wässrigen Teil des Landes.
Man muss sich daran gewöhnen, wie es sich fühlt, Dammstraßen zu befahren.
Wenigstens war das Wetter in Ordnung: Die Nordsee kann schön stürmisch werden.
Trotzdem tut dem Auto der ganze Salz in der Luft nicht gut.
Wir fuhren mehr oder weniger willkürlich nach Ouddorp,
wo wir den Strand besuchten.
Fast das erste, was man an der Küste dieses Landes merkt, ist, dass man nicht immer das Meer sieht,
weil meistens ein massiver Deich davor steht. Und mit „massiv“ meine ich auch „massive“.
Dahinter wird man mit nützlichen Bedienungsanleitungen für den Strand konfrontiert,
und wenn man weiter kommt, kann man versuchen, eine Aktivität zu find, die nicht verboten ist.
Das Frisbee-Werfen gehört dazu, eine Fähigkeit, die man üben muss.
Die Beziehung der Niederlande zum Meer ist, um es milde auszudrücken, zwiespältig.
Seit Jahrhunderten gewinnen Menschen Land vom Meer wieder,
und das Meer versucht, es wieder zurückzugewinnen, mit eine Serie verheerender Überschwemmungen,
die oft Tausende Menschen töten.
Die letzte war 1953: Es kamen in den Niederlanden 1800 Menschen ums Leben,
sowie auch Hunderte in Belgien und England.
Der Strand ist Mitte Oktober zwar fast leer,
aber man wird immer wieder daran erinnert, dass man sich in einem äußerest dicht besiedelten Land befindet.
Zeit, uns wieder mal ins Auto zu setzen, und den Weg aus Südholland zu finden,
weiter nach Zeeland, um eine Übernachtungsmöglichkeit zu finden, bevor alles schließt.
Was in den Niederlanden um 18 Uhr der Fall ist.