Tip:
Highlight text to annotate it
X
Alles ist verloren.
Die Welt der Tungu konnte nicht bewahrt werden.
Der große Versuch, dieses letzte wahre Naturvolk gegen die Wirkungen unserer Zeit abzuschirmen, ist gescheitert.
Die Macht unserer Fürsorge hat sich als gewalttätige Ohnmacht erwiesen.
Der Stamm der Tungu lebt in einem abgeschlossenen Tal des Regenhochwalds.
So, in schicksalshafter Absonderung, erhielt sich die Tungu-Tanzkultur: das einzige rein körpersprachliche Kultsystem unseres Planeten.
Die Tungu kannten weder Bild noch Zeichen.
Nicht die einfachste Körperbemalung war erfunden, ...
... kein Ornament war ihnen geläufig.
Haut, Rinde und die Tonerde vom Ufer des Flusses blieben ungeritzt.
Alles, was ihm *** und Not und Kreislauf des Lebens war, drückte der Stamm in seinen täglichen Tänzen aus.
Im Wort TUNGU fielen die Bedeutungen von WIR und die Bedeutung von TANZ ohne für uns erkennbare Differenz ineinander.
Anrührend schlicht und zugleich monumental trat unseren Augen und unserer Wissenschaft der Tanz der Tungu als die letzte ungebrochene Erzählung menschlicher Frühzeit entgegen.
Aber als wir, die verantwortlichen Beobachter der Weltorganisation Zum Schutz Bedrohter Völker, am Ende der letzten Regenzeit, ...
... nach 36 Monaten Absenz, zur streng behutsamen Bestandsaufnahme im Tal eintrafen, ...
... fanden wir eine völlig veränderte Szenerie vor.
Erstmals in ihrer Stammesgeschichte huldigten die Tungu dem Bildnis einer furchtbar eindeutigen Gottheit.
Der Stamm fertigte kleine und große Exemplare aus Knochen, aus Holz, Lehm und Harz.
Sogar die Schädel der Ahnen waren ausgegraben ...
... und mit Haaren und Pflanzenfasern beklebt worden, um dem neuen Gott zu gleichen und zu dienen.
Bestimmt über fünf Meter hoch ist die auf einem Holzgerüst aus über hundert bräunlichen Schädeln zusammengefügte Plastik, ...
... die wir mitten auf dem einst freien Tanzplatz entdecken mussten.
In dessen blank gestampftem Kreis war, bis auf wenige erschütternde Rudimente, die einstige Ausdrucksvielfalt erloschen.
Die jähe Gewalt des neuen Kults schien den althergebrachten Tänzen jeden Sinn entrissen zu haben.
Der Anblick des erbärmlichen Gehoppses trieb uns Tränen in die Augen.
Als wir eine frisch errichtete Tempel-Hütte besichtigen wollten, wurde uns von den bislang friedfertigen Jägern der Zutritt verwehrt.
Wir standen vor einem Rätsel.
Aber dessen dunkelstem Winkel entsprang dass Licht der Lösung.
Unerklärlich schien uns vor allem die Herkunft der ornamentalen Kunst, die der Stamm mit seinem ersten Gott verband.
Aus heiterem Himmel waren die Tungu zu fünf scheinbar abstrakten Zeichen gekommen, ...
... die sie auf große Blätter malten, in ihre Gefäße kratzten und sich gegenseitig mit Pflanzenfarben auf die Bäuche und in die Gesichter tätowierten.
Etwas in uns sperrte sich gegen die schlagende Einfachheit der Erklärung.
Wahrscheinlich war die Entschlüsselung dieser Chiffren schlicht zu simpel, um sogleich zu gelingen.
Weder Tier- noch Pflanzengestalt, weder die Krümmung des Flusses noch die Horizontlinie der Bergkämme gaben ihnen ihren Verlauf.
Strich und Bogen sind in ihrer jeweiligen Zusammenfügung nichts anderes als die recht getreue Nachahmung von lateinischen Lettern.
Fünf unserer Großbuchstaben bilden dass neue kultische Kapital des Stammes: C, E, I, M und das R!
Als einzelne Lettern, in Paaren, in Dreier-, Vierer-und Fünfergrüppchen finden sie Verwendung, ...
... und, obwohl wir den entscheidenden Erkenntnisschritt getan glaubten, ...
... dauerte es noch mehr als einen Tag, bis uns merkwürdig verzögert auffiel, dass eine Fünferkombination besonders häufig auftritt.
Wir wollten alles wissen.
Satellitentelefon. Verstärkung. Spezialeinheit. Blendgranaten. Reizgas.
Wir folgten, um unsere Arbeit zu tun.
Wir entnahmen Materialproben des Allerheiligsten, das in einem Schrein aus polierten Knöchleinen aufbewahrt wurde.
Mit dem Erbeuteten stiegen unsere Helikopter zurück in die sichere Schwärze des Himmels.
Nun wissen wir es.
Auslöser des Totenkopfkultes ist ein Stück bedrucktes Papier gewesen:
Nichts weiter als das schräg abgerissene Cover eines Romanheftchens.
Eine Schädelfratze mit flatterndem Haar.
Darüber ist noch das Wort CRIME zu lesen, ...
... der vordere Teil des Titels, den das Schundheft führt.
Unsere Chemiker fanden an der aus dem Tungu- Tempel geraubten Papierprobe ...
... mumifizierte Spuren menschlichen Kots und besondere Harnkristalle, ...
... wie sie nur entstehen, wenn unser Urin in dünnster Luft schockgefroren wird.
Was für eine Niederlage!
Welch eine Schmach, ...
... denn in Unschuld können wir unsere Hände wahrlich nicht waschen.
Die Tungu-Tanzkultur ist an einem Geschenk des Himmels, ...
... am Ausstoß un serer sphärenzerreißenden Höhenflüge, zugrundegegangen.
Dennoch - in verlegener, noch halbverhohlener Erwartung -- reiben wir uns inzwischen bereits wieder die klammen Finger.
„Kommt Zeit, kommt Rat!", sagt ein altes, längst global gewordenes Sprichwort.
Auch der Totpunkt rührt sich.
Crime Tungu!
Auch aus dem Dung dieser Vernichtung wird unserer Hegelust, wird unserem weltumspannenden Pflanzen und Pflegen ein bleicher Keimling, ...
... soll uns die Zukunft eines großen historischen Abenteuers entgegensprießen. �